Rollende Steine
»Halt, wer da?« zu rufen. Sie waren
zu den unmöglichsten Zeiten in den Straßen unterwegs und sahen dabei
Dinge, die normalen Sterblichen verborgen blieben.
Feldwebel Colon hob respektvoll die Hand zum Helm.
»‘n’ Abend, Euer Lordschaft«, sagte er.
»Äh… GUTEN ABEND.«
Die Wächter sahen dem Pferd nach, bis es außer Sicht geriet.
»Irgend jemand muß gleich dran glauben«, sagte Feldwebel Colon.
»Er ist sehr pflichtbewußt, das muß man ihm lassen«, erwiderte Nobby.
»Ständig unterwegs. Hat immer Zeit für die Leute.«
»Ja.«
Die beiden Wächter starrten in die samtene Dunkelheit. Da stimmt
was nicht, dachte Feldwebel Colon.
»Wie lautet sein Vorname?« fragte Nobby.
Sie starrten weiter in die Finsternis. Schließlich erwachte Feldwebel Co-
lon aus seinen Grübeleien und fragte: »Sein Vorname? Wie meinst du
das?«
»Ich meine seinen Vornamen.«
»Er ist der Tod«, sagte Colon. » Tod. So heißt er. So lautet sein Name.
Dachtest du etwa an so was wie… Heinrich Tod?«
»Warum nicht?«
»Aber er ist doch der Tod .«
»Der Name bezieht sich auf seine Arbeit. Wie nennen ihn seine Freun-de?«
»Seine Freunde ?«
»Schon gut.«
»Wie wär’s, wenn wir uns im Wachhaus einen heißen Rum genehmi-
gen?«
»Ich glaube, er sieht wie ein Leonard aus.«
Feldwebel Colon erinnerte sich an die Stimme. Eigenartig. Fast hatte er
den Eindruck gewonnen…
»Offenbar werde ich langsam alt«, sagte er. »Für mich klang er fast wie
eine Susanne.«
»Ich glaube, sie haben mich gesehen«, flüsterte Susanne, als das Pferd um
eine Ecke bog.
Der Rattentod sah aus ihrer Tasche.
QUIEK.
»Viel eicht brauchen wir den Raben«, sagte Susanne. »Ich meine… ich
verstehe dich. Ich weiß nur nicht, was deine Worte bedeuten.«
Binky blieb vor einem großen Haus stehen, das sich ein wenig abseits
der Straße anmaßend erhob. Es hatte mehr Giebel und Mittelpfosten, als
es eigentlich haben sol te, und das verriet seinen Ursprung: Solche Häu-
ser bauten sich reiche Kaufleute, wenn sie ehrbar wurden und ihre Beute
investieren wollten.
»Ich habe kein gutes Gefühl dabei«, meinte Susanne. »Es kann unmög-
lich klappen. Ich bin ein Mensch. Ich muß auf die Toilette gehen und so.
Ich kann nicht einfach irgendwelche Leute besuchen und sie umbrin-
gen!«
QUIEK!
»Na schön. Ich bringe sie nicht in dem Sinne um. Aber von guten Ma-
nieren kann man in diesem Zusammenhang gewiß nicht sprechen, ganz
gleich, aus welchem Blickwinkel man die Sache betrachtet.«
An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: Lieferanten benutzen
den hinteren Eingang.
»Bin ich ein…«
QUIEK!
Normalerweise hätte Susanne nicht einmal im Traum daran gedacht, so
etwas zu fragen. Sie hielt sich selbst für eine Person, die stets durch die Haupteingänge des Lebens ging.
Der Rattentod hastete über den Pfad und passierte die Tür, ohne daß
sie sich vorher öffnete.
»Warte! Ich kann nicht…«
Susanne betrachtete das Holz. Doch, sie konnte. Natürlich. Weitere
Erinnerungen erwachten in ihr. Immerhin war es nur Holz, das während
der nächsten Jahrhunderte immer mehr verrottete. Nach dem Maßstab
der Ewigkeit existierte es kaum. Das galt für praktisch alle Dinge, vergli-
chen mit der Lebenszeit des Multiversums.
Das Mädchen trat vor, und die schwere Eichentür leistete soviel Wi-
derstand wie ein Schatten.
Trauernde Verwandte standen am Bett, in dem ein verschrumpelter Alter
lag, der sich fast zwischen den Kissen verlor. Am Fußende des Bettes
ruhte eine große, dicke, rötlich-gelbe Katze, die dem al gemeinen Weh-
klagen keine Beachtung schenkte.
QUIEK.
Susanne warf einen Blick auf das Stundenglas. Die letzten Sandkörner
rieselten in die untere Hälfte.
Der Rattentod schlich sich mit übertriebener Vorsicht an die Katze
heran und gab ihr einen ordentlichen Tritt. Das Tier erwachte, drehte
den Kopf, legte entsetzt die Ohren an und sprang von der Steppdecke
herunter.
Der Rattentod kicherte.
SNH, SNH, SNH.
Einer der Trauergäste – ein Mann mit verkniffenem Gesicht – hob den
Kopf und sah zu dem Alten.
»Das wär’s«, sagte er. Es klang erleichtert. »Er ist tot.«
»Ich dachte schon, wir müßten den ganzen Tag hier verbringen«,
kommentierte die Frau neben ihm und stand auf. »Hast du gesehen, wie
die Katze von der Decke heruntergesprungen ist? Tiere spüren es, weißt
du. Sie haben einen sechsten Sinn.«
SNH, SNH, SNH.
»Na los, zeig dich«, sagte der Tote und setzte
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