Rollende Steine
sich auf. »Ich weiß, daß
du hier irgendwo bist.«
Susanne war mit dem Konzept von Geistern vertraut. Al erdings hatte
sie sich die Sache ein wenig anders vorgestellt. Es erstaunte sie, daß
Phantome den Lebenden so sehr ähnelten und sich nicht etwa als vage
Schemen präsentierten.
Dem Alten im Bett fehlte es nicht an Substanz. Ein blaues Glühen
umgab ihn.
»Hundertsieben Jahre.« Er lachte meckernd. »Ich schätze, du hast dir
schon Sorgen gemacht, wie? Wo bist du?«
»Äh… HIER«, erwiderte Susanne.
»Ein weiblicher Tod?« fragte der Alte. »Na sowas.«
Er rutschte vom Bett herunter, und sein geisterhaftes Nachthemd flat-
terte. Nach einem Schritt verharrte er plötzlich, als hätte er das Ende
einer Kette erreicht. Das war tatsächlich der Fal . Eine dünne Schnur aus
blauem Licht verband ihn mit seiner früheren Existenz.
Der Rattentod sprang auf und ab und schwang dabei seine Sense.
»Entschuldigung.« Susanne holte aus und schnitt. Die blaue Schnur
zerriß mit einem schrillen, kristallenen Twing.
Die Trauergäste gerieten nun in Bewegung und schritten durch Susanne und den Verstorbenen. Das Wehklagen fand ein Ende. Der Mann mit
dem verkniffenen Gesicht schob eine Hand unter die Matratze.
»Sieh sie dir nur an«, sagte der Tote gehässig. »Der arme, arme Großva-
ter, schluchz, schluchz, wir werden ihn al e sehr vermissen, wo hat der
alte Knacker sein Testament versteckt? Das ist mein jüngster Sohn, ja-
wohl. Wenn man eine Glückwunschkarte zu Silvester als jüngsten Sohn
bezeichnen kann. Siehst du seine Frau? Ihr Lächeln hat mich immer an
die kleinen Wel en in einem Eimer mit Schmutzwasser erinnert. Und sie
ist nicht mal die Schlimmste des ganzen Haufens. Verwandte? Die kön-
nen mir gestohlen bleiben. Ich bin nur aus reiner Bosheit am Leben ge-
blieben.«
Zwei Personen erforschten den Kosmos unterm Bett. Porzel an klap-
perte auf eine humorvolle Weise. Der Alte hüpfte hinter den Verwand-
ten herum und gestikulierte.
»Von wegen!« juchzte er. »Hä-häh! Das Testament liegt im Katzen-
korb! Ich habe das ganze Geld der Katze vermacht!«
Susanne blickte sich um. Die Katze duckte sich hinter dem Waschge-
stel und beobachtete das Geschehen verunsichert.
Die Umstände schienen eine Antwort zu erfordern.
»Das war… äh… sehr nett von dir«, sagte Susanne.
»Ha! Faules Vieh! Hat dreizehn Jahre lang nur geschlafen und auf die
nächste Mahlzeit gewartet. Brauchte sich in seinem ganzen gemütlichen
Leben kaum zu bewegen. Das wird sich ändern, wenn die Leute dort das
Testament finden. Dann wird er nicht nur zum reichsten, sondern auch
zum schnellsten Kater der Welt…«
Die Stimme verschwand. Ebenso der tote Greis.
»Ein schrecklicher alter Mann«, murmelte Susanne.
Sie blickte auf den Rattentod hinab, der vor dem Kater Grimassen
schnitt.
»Was geschieht jetzt mit ihm?«
QUIEK.
»Oh.« Hinter ihnen ließ ein Trauergast den Inhalt einer Schublade zu
Boden fal en. Die Katze begann zu zittern.
Susanne trat durch die Wand.
Die Wolken bildeten eine Art Schweif hinter Binky.
»Nun, so schlimm ist es eigentlich nicht gewesen. Ich meine, es gab kein Blut oder so. Außerdem war der Mann ziemlich alt und nicht sehr
nett.«
»Ach, und dann ist alles in Ordnung, wie?« Der Rabe landete auf Su-
sannes Schulter.
»Was machst du denn hier?«
»Der Rattentod meinte, ich könnte mitkommen. Ich muß einen Ter-
min wahrnehmen.«
QUIEK.
Das Rattenskelett sah aus der Satteltasche.
»Sind wir etwa eine Art Droschkendienst?« fragte Susanne kühl.
Die Ratte zuckte mit den Schultern und drückte ihr eine Lebensuhr in
die Hand.
Susanne sah auf das Etikett und las den Namen.
»Wolf Wolfssonssonssonsson? Klingt mittländisch.«
QUIEK.
Der Rattentod kletterte an Binkys Mähne empor und hockte sich mit
wehendem Umhang zwischen seine Ohren.
Binky galoppierte langsam über ein Schlachtfeld. Hier fand nicht etwa
ein richtiger Krieg statt, nur ein stammesinterner Zank. Es gab auch kei-
ne verfeindeten Streitkräfte. Die Kämpfer bildeten zwei Gruppen aus
Individuen, von denen einige auf Pferden saßen. Sie standen nicht nur
al e auf derselben Seite, sondern trugen auch die gleiche Kleidung aus
Pelzen und aufregenden Lederwaren. Susanne fragte sich, wie man hier
den Freund vom Feind unterschied. Die Auseinandersetzung bestand
zum größten Teil aus lautem Geschrei und ziel osem Schwingen von
Schwertern und Streitäxten. Wenn man jemanden traf, wurde dieser
Weitere Kostenlose Bücher