Rom - Band III
Sohn verflucht habe. Ich will, daß er es erfährt; er muß es wissen, um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen.« Großer Gott, sollte er gehorchen? War das einer jener heiligen Befehle, die man ausführen muß, selbst wenn Thränen und Blut in Strömen fließen? Einige Sekunden lang fand der herzzerreißendste Kampf in ihm statt; er schwankte zwischen dieser Wahrheit, dieser Gerechtigkeit, auf die die Tote sich berufen, und seinem persönlichen Bedürfnis nach Vergebung, dem Grauen, das er vor sich selbst gehabt hätte, wenn er diesen Greis durch die Erfüllung seiner unversöhnlichen, niemand Nutzen bringenden Mission getötet haben würde. Und sicherlich mußte der andere, der Sohn, begreifen, daß irgend ein Kampf in ihm stattfinde, von dem das Schicksal seines Vaters abhing; denn sein Blick wurde noch schwerer, noch flehender.
»Man hat zuerst an eine Verdauungsstörung gedacht,« fuhr Pierre fort. »Aber das Uebel verschlimmerte sich so rasch, daß man erschrak und um einen Arzt lief.« Ach, die Augen Pradas, die Augen Pradas! Sie waren so verzweifelt geworden, und die rührendsten, die gewichtigsten Dinge malten sich in ihnen, so daß der Priester alle die entscheidenden Gründe aus ihnen herauslas, die ihn am Sprechen hindern sollten. Nein, nein, er würde den unschuldigen Greis nicht so treffen! Er hatte nichts versprochen; es hätte das Andenken der Toten mit einem Verbrechen belasten geheißen, wenn er ihrem letzten Hassesausbruch gehorcht haben würde. Prada selbst hatte während dieser wenigen, angstvollen Minuten ein ganzes Leben so gräßlichen Schmerzes durchgemacht, daß trotz alledem der Gerechtigkeit ein wenig Genüge geschehen war.
»Als nun der Arzt kam, erkannte er förmlich, daß es sich um ein ansteckendes Fieber handelte,« schloß Pierre. »Es herrscht kein Zweifel daran ... Ich habe heute vormittag dem Begräbnis beigewohnt; es war sehr schön und sehr rührend.«
Orlando drang nicht weiter in ihn, sondern begnügte sich, mit einer Geberde auszudrücken, daß auch er den ganzen Vormittag bei dem Gedanken an diese Beerdigung bewegt gewesen sei. Als er sich dann umdrehte und mit seinen noch zitternden Händen die Zeitungen auf dem Tische ordnete, sah Prada Pierre noch einmal mit einem festen Blick an, während er sich, von Todesschweiß erstarrt, schwankend an die Lehne eines Stuhles stützte, um nicht zu fallen; aber es war ein sehr sanfter Blick voll rasender Erkenntlichkeit, der »danke« sagte.
»Ich reise heute abend ab,« wiederholte Pierre; er war ganz erschöpft und wollte das Gespräch abbrechen. »Ich komme, um von Ihnen Abschied zu nehmen ... Haben Sie mir keinen Auftrag für Paris zu geben?«
»Nein, gar keinen,« sagte Orlando.
Aber mit einemmale besann er sich.
»Ei doch, ich habe einen Auftrag für Sie. Sie erinnern sich gewiß an das Buch meines alten Waffengefährten Theophil Morin, einem der Tausend Garibaldis – an dieses Handbuch für das Baccalaureat, das er übersetzen und für Italien bearbeiten lassen wollte. Ich bin sehr froh, denn man hat mir versprochen, es in unseren Schulen aufzunehmen; aber unter der Bedingung, daß er einige Aenderungen macht ... Luigi, reiche mir doch den Band her, der dort auf dem Brette liegt.«
Und als sein Sohn ihm den Band gereicht hatte, zeigte er Pierre die Notizen, die er mit Bleistift auf dem Rande gemacht hatte, indem er ihm die Aenderungen erklärte, die man von dem Verfasser bezüglich des allgemeinen Planes des Werkes erwartete.
»Seien Sie also so liebenswürdig, dieses Exemplar Morin, dessen Adresse auf der Rückseite des Buches steht, selbst hinzutragen. Sie ersparen mir dadurch einen langen Brief und werden ihm in zehn Minuten mehr und in bestimmterer, vollständigerer Weise sagen, als ich es auf zehn Seiten thun könnte. Und umarmen Sie Morin von mir; sagen Sie ihm, daß ich ihn noch immer liebe – o, von ganzem Herzen, wie einst, da ich noch meine Beine hatte und wir uns beide wie die Teufel im Kugelregen schlugen!«
Ein kurzes Schweigen – das Schweigen, die gerührte Befangenheit des Trennungsmomentes trat ein.
»Adieu also! Umarmen Sie mich, für ihn und für sich selbst; umarmen Sie mich zärtlich, so wie vorhin jenes Kind es gethan ... Mein lieber Herr Froment, ich bin so alt und so fertig, daß Sie mir wohl erlauben, Sie ›mein Kind‹ zu nennen und Sie wie ein Großvater zu umarmen, der Ihnen Mut und Frieden und den Glauben an das Leben wünscht, der allein zum Leben hilft.«
Pierre war so gerührt,
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