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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
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meiner Hand. Seine war schweißnass und kalt. Plötzlich befiel ihn ein Zittern, das so stark war, dass das ganze Bett zu wackeln begann. Ich rief die Schwester. Sie gab ihm eine Spritze. Danach verschwand ich.
    In dieser Zeit versuchte ich immer wieder, mit Nina Kontakt aufzunehmen. Doch sie meldete sich nicht. Ihr Mobiltelefon war abgeschaltet. Einar sah ich nur selten. Er hielt sich zurück. Offenbar wollte er mich bei meiner Auseinandersetzung mit dem nahenden Tod meines Vaters nicht stören.
    Dann kam eine Phase, in der mein Vater sich zu erholen schien. Er war ständig gut gelaunt. Er hatte für alle ein freundliches Wort, er fand das Essen, an dem er gewöhnlich immer etwas zu meckern hatte, plötzlich ausgezeichnet. Wir sprachen jetzt viel über meine Kindheit. »Du warst ein komischer Junge«, sagte er einmal. »Eine deiner Lieblingsbeschäftigungen war, im Sommer in einem abgedunkelten Zimmer zu sein. Du hast in eins der heruntergezogenen Rollos ein kleines Loch gemacht. Die Welt draußen, die Fußgänger, die sich im Wind bewegenden Blätter der Bäume, alles stand auf dem Kopf auf der gegenüberliegenden Wand und bewegte sich in der entgegengesetzten Richtung. Wie bei einer Kamera obscura. Wenn deine Altersgenossen draußen spielten, warst du lieber in deinem selbst gemachten Kino.«
    Ich hatte den Eindruck, dass die Augen meines Vaters kleiner wurden. Sie schienen von den Rändern her zusammenzuwachsen wie Mooraugen. Das wässrige Blau in der Mitte schrumpfte von Tag zu Tag. Ich besuchte ihn nun regelmäßig, meistens schon am frühen Vormittag. Es war für mich ein Ritual inzwischen, so etwas wie meine Messe. Wir schwiegen zumeist. Das Reden fiel ihm schwer. Die Zunge war immer noch in Mitleidenschaft gezogen. Mein Schweigen kam mir wie eine Beichte vor, das seine wie eine Schelte.
    Als ich wieder einmal das Zimmer betrat, war alles anders. Er war halb aus dem Bett gefallen, die Beine lagen noch oben, der Oberkörper, der Kopf lagen auf dem Boden. Die Augen waren offen, ebenso der zahnlose Mund. Das Nachthemd war hochgerutscht. Urin sickerte aus dem Schlauch, der bei dem Sturz aus der Bauchdecke gerissen war. Sein Atem ging stoßweise, unregelmäßig. Ich schaffte ihn ins Bett zurück und ließ die Jalousie herunter. Dann beugte ich mich über ihn und bemerkte, dass er aufgehört hatte zu atmen. Im Dämmerlicht glaubte ich in diesem Augenblick zu sehen, wie eine kleine Gestalt aus seinem Mund kroch und die Flügel ausbreitete, um davonzuschwirren. Die Seele auf dem Weg ins Himmelreich. Ich kniete nieder und küsste ihm die kalte, feuchte Stirn. Dass er tot war, spürte ich. Ein eisiger Windhauch wehte aus der Tiefe des Alls und ließ meine Gefühle gefrieren. Das Pneuma meines Vaters. Ich war ruhig, aber meine Ruhe war spröde wie Glas. Diesmal war das Schweigen meines Vaters keine Schelte. Es war die Stille vor der Erschaffung der Welt. Ich spürte, wie sein Tod mit meinen Erinnerungen zusammenwuchs und eine geschlossene Eisdecke bildete, auf der ein kleiner Junge Schlittschuh lief. War er es oder ich? Der Junge stolperte, stürzte und fing bitterlich an zu weinen. Es waren meine Tränen, die auf sein Gesicht tropften und sich in seinen Augenwinkeln sammelten.
    Falsini war zurück. Er nahm die Obduktion persönlich vor. Ich sah keine Möglichkeit, die Prozedur zu beeinflussen oder einen anderen Arzt vorzuschlagen. Anschließend gab er mir eine Audienz. Wieder saß ich in seinem kleinen Büro. Ich starrte auf das Bild. Zwischen den Fingern Adams und seines Erzeugers gab es keinerlei Funken.
    Falsini kam gleich zur Sache: »Es ist, wie ich es Ihnen gegenüber bereits diagnostiziert hatte. Verschiedene Organe, vor allem die Leber, waren so stark geschädigt, dass das Ende unvermeidlich war. Am Schluss kam noch eine Niereninsuffizienz hinzu. Mit anderen Worten, Ihr Herr Vater ist an Harnvergiftung gestorben. Sie wissen, dass er unmäßig getrunken hat. Aber er tat es im vollen Bewusstsein der Konsequenzen. Er war ein tapferer Mensch. Es tut mir Leid für Sie. Sie müssen ihn schmerzlich vermissen, nachdem Sie ihn so spät wieder gefunden haben.«
    Alles, was mir mein Vater hinterließ, waren eine Reihe von Urinbeuteln und seine Marineuniform. Sein Testament war kurz. »Ich verzeihe allen Menschen, die gut zu mir waren. Mein Sohn möge mich nicht in so schlechter Erinnerung behalten, wie ich tatsächlich war. Ich wünsche mir von ihm, dass er bei meiner Beerdigung meine Uniform trägt und mich würdig

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