Roman
gerissen, aus der Mitte meiner Familie und Freunde, aus einem Abend voller Liebe und Lachen, den ich nie mehr vergessen würde. Jetzt war ich wieder in der nackten Realität angekommen.
Einen Moment lang bereute ich, dass ich Red nicht gesagt hatte, dass ich die Untersuchungsergebnisse an diesem Tag bekommen würde. Aber man hatte ihm eine Foto-Session angeboten, mit der größten Rockband, die es in Schottland je gegeben hatte. Es war eine Superchance. Fünf Städte in sieben Tagen und die Gelegenheit, einzigartige Fotos zu machen. Ich wusste genau, dass er auf alles verzichtet hätte, um bei mir zu sein. Also hatte ich ihm, anstatt ihm die Wahrheit zu sagen, erzählt, der Termin sei erst in der nächsten Woche.
Wenn die Diagnose schlecht war, würden wir noch genug Zeit haben, uns daran zu gewöhnen. Es machte also keinen Sinn, sein Leben jetzt schon zu belasten. Und wenn die Ergebnisse nicht so ausfielen, wie wir uns das wünschten, würde er sie ohnehin nicht glauben. Krankheit war für ihn keine Option. Zu behaupten, dass er sie ignorierte, wäre die größte Untertreibung seit Gingers Behauptung in einem Zeitungsinterview, sie würde gern ab und zu durch Harvey Nichols bummeln. Während ich mich ununterbrochen mit Diagnosen und Therapiemöglichkeiten beschäftigte, hatte Red sich einen ganz anderen Ansatz zu eigen gemacht. Einzelheiten interessierten ihn nicht.
Wir lachten weiter und verhielten uns völlig normal, und trotz der vielen Krankenhausbesuche sprachen wir nie über den schlimmstmöglichen Fall. Niemals. Unsere Strategie hieß positiv denken, weiterleben, der Krankheit keine Chance geben, in unserem Leben die Oberhand zu gewinnen. Nein, Red wollte nicht wissen, welche Highschool ich mir für Cassie vorstellte, denn ich konnte die Entscheidung ja später noch treffen. Er wollte auch keine künftigen Entwicklungen besprechen oder Vorbereitungen für den Ernstfall treffen. Aber alles das war nicht der Grund dafür, dass er zum ersten und bisher einzigen Mal in unserem Leben so richtig böse auf mich geworden war.
Es war am Abend nach der letzten Biopsie gewesen. Damals hatte ich um vier Uhr morgens im Bett gelegen und an die Decke gestarrt, weil eine Panikattacke meine Fantasie an Orte führte, an denen ich niemals sein wollte.
»Schläfst du nicht?« hatte Red gemurmelt.
»Nein«, hatte ich geflüstert.
Er rollte zu mir herüber und küsste meinen Nacken. »Es wird alles gut, Baby.«
Normalerweise hätte ich seinen Optimismus akzeptiert, genickt und mich von seiner Zuversicht tragen lassen. In jener Nacht gelang mir das jedoch nicht. In jener Nacht war ich viel zu aufgelöst. Es gab so vieles, um das ich mir Sorgen machte, Fragen, die er mir dringend beantworten musste, um mich zu beruhigen.
»Red …?«
Im Halbschlaf murmelte er etwas Unverständliches.
»Wenn ich nicht mehr hier wäre, würdest du dann noch mal heiraten? Wegen Cassie? Red, sie braucht eine Mum, und sie braucht jemanden zum …«
Er setzte sich mit einem Ruck auf, schaltete die Nachttischlampe an und sah mich an, mit einem Ausdruck, den man nur als Entsetzen bezeichnen konnte.
»Sag. Das. Nie. Wieder.« Seine Stimme war leise, aber der Zorn und die Angst in seinen Augen waren nicht zu übersehen. »Dir wird nichts passieren, Lou, deshalb muss ich nicht über so etwas nachdenken.«
Aber ich war längst jenseits von Vernunft und Zugänglichkeit.
»Woher weißt du das? Was ist, wenn es nicht so ist? Sollen wir einfach alles ignorieren, und wenn es schiefgeht, ist es zu spät, um sich vorzubereiten? Red, ich habe Eltern, die sich einen Teufel um mich gekümmert haben, und das werde ich Cassie nicht antun. Sie muss wissen, dass ich alles gegeben habe. Dass ich sie geliebt habe, dass ich alles getan habe, um dafür zu sorgen, dass sie es gut hat. Ich muss wissen, dass du dir jemand Neues suchst, wenn mir etwas passiert. Lizzy vielleicht. Du und Lizzy, ihr würdet doch perfekt zusammenpassen und …«
Was, zum Teufel, redete ich da? Ich spürte, dass ich völligen Unsinn von mir gab, aber ich konnte nicht anders. Seit Monaten hatte ich versucht, solche Gedanken unter Kontrolle zu halten, aber jetzt brachen sie plötzlich aus mir heraus.
»Stopp!« Er schrie nicht, und trotzdem ging mir seine Stimme durch Mark und Bein. Sie war leise. Schmerzerfüllt. Verzweifelt. »Willst du mich jetzt ernsthaft mit deiner besten Freundin verkuppeln, für den Fall, dass du stirbst?«
Eine lange, entsetzliche Pause folgte, und dann begann ich
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