Roman
Fiktionen hatte ich den Ort des Glücks entdeckt. Noch vor wenigen Wochen hätte ich die Theorie noch als Psychoblabla abgetan; jetzt war sie zu meiner Lebensphilosophie geworden. Wenn einem alles über den Kopf wuchs, hieß es in diesem Ratgeber, stelle man sich einen Ort oder ein Ereignis aus der Vergangenheit vor, etwas Sicheres und Warmes, schließe die Augen und bleibe dort, bis man bereit sei, sich wieder der Realität zu stellen.
Im Moment war meine Realität Angst und Schrecken, ein Warteraum in der Klinik, eine Ninja-Kriegerin und eine zum Musikmogul mutierte Exsängerin, die ein wenig unpassend gekleidet war.
Höchste Zeit, woanders zu sein.
Lektion 142
Wenn das Leben ein Kreislauf ist, dann sorg dafür, dass du an den richtigen Stellen anhältst
Drei Wochen zuvor …
Lizzys sonnenblumengelbe Küche war wie das Setting einer Familienkochshow: Verlockende Düfte aus dem beeindruckend großen Herd, in der Mitte eine Insel aus weißem Holz mit Granitplatte, darauf zwei große Körbe mit Obst und ein Jamie-Oliver-Buch auf einem hölzernen Ständer, Kupfertöpfe, die von der Decke herabhingen, ein wunderschönes altes Büfett, in dem teures Wedgwood-Geschirr aufgereiht war. Niemand brauchte zu wissen, dass Lizzy noch einen Stapel Ersatzteller in dem Schrank unter der Kellertreppe aufbewahrte, denn exquisites Porzellan und Lizzys Ungeschicktheit passten nicht gut zusammen.
Auf dem langen, rustikalen Holztisch vor den bodentiefen Fenstern stand eine große Vase mit Narzissen aus dem Garten, in den man durch die Flügeltüren gleich nebenan gelangte. In der Ecke stand eine Couch mit einem fröhlichen Blumenmuster, davor ein kleiner Beistelltisch, auf dem Bücher und ein Stapel moderner Kochmagazine lagen. Lizzy könnte direkt aus einer der Lifestyleseiten entsprungen sein. Sie hatte noch immer kaum ein Fältchen in ihrem porzellanhaften Gesicht, die pechschwarzen Haare fielen ihr in großzügigen Wellen auf die Schulter, die Figur war immer noch dieselbe wie zu Highschool-Zeiten.
Ja, es war wirklich der Inbegriff des perfekten Familienlebens. Bis auf das Baby, ein Gemeinschaftsprodukt des schwulen Exmannes der Hausfrau, seines Partners, einer anonymen Eispende und eines Teströhrchens.
Ich nahm Caleb aus seiner Wiege und atmete den betörenden Säuglingsduft ein. Caleb war jetzt vier Wochen alt, hatte wunderschöne große blaue Augen, eine honigfarbene Haut, einen winzigen süßen Mund und hellbraunes Haar, das von beiden Vätern stammen konnte. Sie hatten beschlossen, nicht herauszufinden, welche Schwimmer beim Befruchtungsrennen als Erste die Ziellinie überquert hatten. Ob Caleb Bens oder Alex’ biologischer Sohn war, würde man wohl erst feststellen, wenn man sah, ob ihm Zahlen oder juristische Spitzfindigkeiten mehr lagen.
»Wann holen die Männer ihn ab?« fragte ich, in der Hoffnung, dass es noch nicht so bald sein würde.
»Bald«, antwortete sie. »Aber vielleicht bleiben sie zum Essen, dann haben wir Caleb noch eine Weile bei uns.«
Wie aufs Stichwort gab der Kleine einen gurgelnden Laut von sich und umklammerte meinen kleinen Finger. Sofort erreichten meine Hormone die nächsthöhere Stufe auf der Muttergefühleskala. Ich liebte meine Tochter, und in letzter Zeit hatte ich immer häufiger überlegt, ob es nicht langsam Zeit für ein Brüderchen oder ein Schwesterchen würde. Natürlich nur, wenn … wenn …
»Wann hast du deine nächste Biopsie?«, fragte Lizzy.
»Nächste Woche. Eine wichtige. Es geht um die Lymphknoten.«
Zwei Arme umschlangen mich von hinten, dann drückte sich ein dicker Kuss auf meine Wange. »Es wird alles gut, Lou. Die Befunde sind negativ, und dann kannst du das alles endlich hinter dir lassen. Und noch ganz viele Babys bekommen, denen wir dann beibringen werden, wie man Cocktails mixt, damit wir die Beine hochlegen und ein Leben in Saus und Braus führen können.«
»Wenn wir das tun, werden wir Ginger nie mehr los. Sie würde sofort einziehen und ihnen einen Viertelstundenrhythmus antrainieren.« Bei der Vorstellung musste ich lachen. »So, ich muss jetzt los. Red kommt heute Abend nach Hause, und bei uns herrscht das reinste Chaos. Ich fühle mich in letzter Zeit immer so müde.«
»Sex. Du hast zu viel Sex, das bekommt dir nicht. Red hat übrigens angerufen, als du vorhin auf dem Klo warst. Ich hab ihn zum Abendessen eingeladen. Im Ofen steht eine Lasagne, mit der ich eine ganze Fußballmannschaft satt bekäme.«
Das war der Grund, weshalb ich meine
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