Roman
gibt wohl keine Messer hier. Mir drängt sich sofort die Frage nach dem Grund auf: um Selbstmorde oder Morde zu verhindern? Oder beides? Ned trägt sein blaues Polohemd nicht in die Hose gesteckt. Daher kann ich nicht sagen, ob auch Gürtel verboten sind.
Ned mustert mich, während er noch mit dem Bagel beschäftigt ist. »Ich merke, dass sich die rechte Begeisterung bei dir nicht einstellen will. Sage mir doch bitte, was dir Gedanken macht.«
»Okay, es ist dieses ganze Ein-Vampir-werden-Ding. Das ist eben nicht mein Wunsch, wenn du verstehst.«
»Noch nicht! Noch nicht dein Wunsch.« Er steckt die Bagel-Hälften in den Toaster. Die ausgefransten Risskanten verhindern, dass die Hälften wie gewünscht in den Toasterschlitz gleiten. Ned muss mit einem Holzlöffel nachhelfen. »Es ist ein Privileg, von Gideon verwandelt zu werden.«
»Ich bin dem letzten Vampir begegnet, den er verwandelt hat. Gideon wollte ihn verhungern lassen. Er hat ihn weggeworfen wie ein benutztes Papiertaschentuch.«
»Seine drei Leibwächter«, fährt Ned fort, als hätte ich nichts gesagt, »Lawrence, Wallace und Jacob. Alle drei seine Abkömmlinge.«
»Und?«
»Du hast es doch eben unten im Wohnzimmer miterlebt. Sie dürfen haben, wen immer sie wollen, wann immer sie wollen – jedenfalls soweit die Regeln es erlauben.«
»Auch Vampire haben Regeln?«
»Wenn sie die nicht hätten, würden sie schon sehr bald ohne die Möglichkeit, sich zu ernähren, dastehen.« Er zählt sie mir an seinen Fingern auf. »Die erste Regel lautet, uns gesund zu erhalten. Niemand darf von ein und demselben Gast mehr als einmal in vierzehn Tagen trinken. Während dieser zwei Wochen tragen wir ein Amulett, das die Vampire von uns fernhält.« Ned zieht ein goldenes Kreuz unter seinem Polohemd hervor. »Die Juden tragen einen Davidstern, die Moslems einen Halbmond. Wiccas – davon gibt’s hier jede Menge – tragen ein Pentagramm.«
»Was machen Leute, die nicht religiös sind?«
Ned lacht. »Kennst du nicht das geflügelte Wort: ›Im Schützengraben gibt es keine Atheisten‹?« Er beginnt wieder mit seiner Aufzählung der Regeln in Gideons Refugium. »Zweitens: Nach Ablauf dieser zwei Wochen ist es möglich, sollte ein Gast sich noch nicht wohl genug fühlen, nach einer Einzelfallprüfung eine Fristverlängerung zu erwirken. Einer der Vampire hat zu seinen Lebzeiten als Arzt praktiziert.«
»Aber wenn man sie nicht trinken lässt, verliert man Punkte.«
Ein Brizzeln kommt aus Richtung des Toasters – der Bagel steckt fest. Ned beugt sich über ihn und rüttelt und wackelt am Hebel zum Versenken der Toastscheiben. Endlich springen die Bagelhälften heraus. Um den Rand herum sind sie verbrannt.
»Wie ich schon gesagt habe: Man erweist dir eine große Ehre. Viele von uns träumen davon, Vampire zu werden.« Ned legt die Bagelhälften auf einen Frühstücksteller und öffnet den Kühlschrank. »Es dauert eine ganze Weile, so viele Punkte zusammenzubekommen. In den fünf Jahren, die ich hier lebe, hat es jedenfalls noch niemand geschafft.«
»Darf ein Gast das Refugium verlassen, wann immer er möchte?«
»Normal oder mit Schnittlauch und Zwiebeln?«
»Hä?«
»Den Frischkäse.« Neds Kopf taucht über der Kühlschranktür auf. »Für deinen Bagel.«
»Ich möchte keinen Bagel.«
»Aber ich habe ihn extra für dich gemacht. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du keinen möchtest?«
»Ich dachte, du machst ihn für dich.«
Ned wirkt gekränkt. »Das wäre ja absolut unhöflich.«
»Dürfen die Gäste nun gehen, wenn sie möchten oder nicht?«
»Aber selbstverständlich dürfen sie das.« Ned schließt die Kühlschranktür. »Aber niemand möchte das.« Er klatscht die flache Hand auf die Theke. »Jetzt weiß ich’s! Wie wäre es mit einer schönen Tasse Kaffee? Wir haben eine wunderbare nicaraguanische Mischung da.«
»Ich möchte wirklich nichts, danke.«
»Oh, jetzt habe ich’s begriffen!« Ned nimmt sich einen Kaffeebecher und schenkt sich eine Tasse Kaffee ein. »Du vermutest, es könnte Gift im Spiel sein.« Er nimmt einen großen Schluck und leckt sich dann die Lippen. »Hmm. Gekocht mit Wasser aus Flaschen – genau das macht den Unterschied. Besonders hier draußen in der Wildnis – man kann ja nie wissen, was sich im Brunnenwasser so alles ansammelt.«
Ich spähe durch die große Schiebetür hinaus auf die rückwärtige Veranda. Ich kann den Sonnenschein förmlich riechen.
»Lass uns doch kurz rausgehen.« Ned trägt seinen
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