Roman
waren. Es ist nicht so, als wenn ich sie vergessen hätte – vielleicht vergisst man die Leute nie, die man verletzt hat und die einen verletzt haben, vielleicht fügen sie einem Narben zu, die einen für immer zeichnen. Die Kriegsnarben. Aber ich habe losgelassen, und die Dinge, an die ich lange nicht mehr gedacht habe, zuletzt vor dem Sommer und der Affäre, kriechen langsam wieder in mein Bewusstsein wie Farbe in ein Foto: alte Freunde – ich habe jetzt wieder Kontakt zu Pippa –, meine Gesundheit, die Nachrichten, wer X Factor gewinnt. Die Normalität ist zurückgekehrt. Mein Gedanken gehören wieder mir. Aber ich habe noch eine letzte Sache von Lexis Liste zu erledigen. Meine Mutter – ich muss sie besuchen.
Also fahre ich über die M1 nach Norden – nur ich, mein kleiner Nissan und mein schäbiges Autoradio, das hin und wieder ein Lied überspringt und den Rest der Zeit brummt und rauscht wie eine dicke Stubenfliege. Normalerweise würde mich das tierisch nerven, und ich würde das Armaturenbrett wüst beschimpfen. Normalerweise müsste ich es erst reparieren lassen, bevor ich damit bis nach Sainsbury fahren könnte, ganz zu schweigen von einer sechsstündigen Fahrt nach Harrogate.
Aber in letzter Zeit passiert mit mir etwas Merkwürdiges, eine Art Ruhe ergreift von mir Besitz. Ich bin auf einmal in der Lage, mit einem rauschenden Radio zu fahren und zu schlafen, obwohl ich weiß, dass unter dem Bett eine zentimeterdicke Staubschicht liegt. Ich sage »in letzter Zeit«, als wäre das langsam so gekommen, aber es kam definitiv sehr plötzlich. Ich wachte eines Morgens auf – und da! Es war, als hätte jemand den Lärm abgestellt, die Erde daran gehindert, zu beben. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich wohl in meiner Haut.
Ich nehme einen Schluck von der Cola light, die gefährlich wackelig neben dem Steuerknüppel steht, stelle das Radio lauter und kurbele das Fenster runter, sodass der Wind, warm wie ein Fön, mir die Haare ins Gesicht weht. Es fühlt sich gut an. Heute ist der 5. September – nächste Woche feiert Lexi ihren 18. Geburtstag, und dann geht sie zurück nach Doncaster. Die Erde hatte den ganzen Sommer Zeit, sich aufzuheizen, und die Landschaft sieht so trocken und trüb aus wie auf einem Bild eines alten Meisters – vielleicht etwas von Vermeer –, auf dem eine Szene ländlicher Einfachheit dargestellt ist. Zu beiden Seiten der Straße erstrecken sich blasse Felder mit Kühen und gelegentlich einem grünen Busch. Die Pappeln biegen sich wie Federkiele im Wind.
Dann komme ich am Ferrybridge-Kraftwerk vorbei. Rauch quillt aus den vier großen Kühltürmen. Zusammen mit den Telegrafendrähten, die im Zickzack über mir verlaufen, erinnern sie daran, dass wir 2009 haben und die industrielle Revolution schon stattgefunden hat. Trotzdem weiß ich, dass ich zu Hause bin, als ich nach Ferrybridge komme. Normalerweise werde ich ab hier nervös bei der Vorstellung, ein ganzes Wochenende bei Mum zu verbringen. Ich sehe uns beide in dem deprimierend leeren Haus, wie ich die Füße anhebe, damit sie endlos staubsaugen kann, während sie fiese Kommentare über Dad macht.
Dieses Mal – ich weiß nicht, wieso – freue ich mich jedoch darauf. Es ist, als wäre dieser Besuch anders. Da war etwas in ihrer Stimme am Telefon gestern Abend.
»Komm früh, damit wir den ganzen Tag zusammen verbringen können, ja?«
Das passte überhaupt nicht zu ihr. Normalerweise stellt sie keine Forderungen. Es ist eher so, als würde sie sich so sehr wünschen, dass ich überhaupt komme, dass sie Angst hat, ich könnte es mir anders überlegen, wenn sie etwas verlangt – was mich, wie ich zugeben muss, in der Vergangenheit gestört hat. Warum kann sie nicht einfach sagen: »Ich freue mich so, wenn du kommst«, statt dass ich ihre Gedanken erraten, ihren Wunsch heraushören muss? Vielleicht wäre ich lieber gekommen, wenn sie weniger Angst gehabt hätte, zu fragen, aber meine Mutter hat ja ihr ganzes Leben lang Angst vor den meisten Dingen gehabt.
Und ich bin eine furchtbare Tochter – die eigene Mutter fast ein Dreivierteljahr nicht zu besuchen. Plötzlich möchte ich dort sein, meine Mutter sehen. Ich wechsele auf die Überholspur und trete das Gaspedal durch.
Gegen halb zwölf biege ich in die Coppice Avenue ein, die ruhige Straße mit den gleichförmigen Häusern am Rand von Harrogate, wo ich aufgewachsen bin. Mum steht barfuß in der Einfahrt und winkt.
Ich steige aus und staune über die Stille.
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