Roman eines Schicksallosen (German Edition)
ganze Reise gefährdet gesehen, sagte er. Er ist dann aber doch noch zur Straßenbahn geeilt, um nach seinem ursprünglichen Plan zur Bus-Endstation zu gelangen. Unterwegs hatte er die voraussichtliche Dauer von Hin- und Rückweg mit der bewilligten Zeit verglichen und ausgerechnet, dass es tatsächlich schon riskant war loszufahren. An der Endstation hat er dann jedoch gesehen, dass der Mittagsbus gerade noch dastand. Und da, so ließ er uns wissen, hat er dann gedacht: «Wie viel Scherereien ich doch wegen dieses Stückchens Papier hatte … Und» – so hat er hinzugefügt – «das arme Mütterchen wartet.» Er erwähnte, dass die alte Frau ihm und seiner Frau allerdings schon einige Probleme gemacht habe. Sie hätten sie schon lange angefleht, zu ihnen zu ziehen, in die Stadt. Doch die Mutter habe sich so lange gesträubt, bis es zu spät geworden sei. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, denn er meinte, die alte Frau hinge nur «um jeden Preis» an ihrem Haus. «Obwohl es nicht einmal Komfort hat», bemerkte er. Aber nun ja, so fuhr er fort, er müsse sie verstehen, da sie doch seine Mutter sei. Und die Arme sei krank, hat er noch hinzugesetzt, und alt sei sie auch schon. Und er sagte, er habe gewusst, dass er es sich «vielleicht nie verzeihen» könnte, wenn er diese einzige Gelegenheit verpassen würde. Und so sei er eben doch in den Autobus gestiegen. An diesem Punkt ist er für einen Augenblick verstummt. Er hat die Hände hochgehoben und sie dann langsam wieder sinken lassen, mit einer ratlosen Bewegung, während sich auf seiner Stirn gleichzeitig Hunderte von winzigen fragenden Fältchen bildeten: Er glich ein wenig einem traurigen, in die Falle geratenen Nagetier. Was sie meinten, hat er dann die anderen gefragt, ob ihm jetzt aus der Angelegenheit Schwierigkeiten erwachsen könnten. Und ob man in Betracht ziehen würde, dass die Überschreitung des eingeräumten Zeitpunkts nicht sein Verschulden war. Und was wohl seine Mutter denke, die er von seinem Kommen benachrichtigt hatte, und daheim seine Frau mit den beiden kleinen Kindern, wenn er um zwei Uhr nicht nach Hause komme. Hauptsächlich, das merkte ich an der Richtung seiner Blicke, schien er von dem erwähnten, würdevoll aussehenden Mann, dem «Experten», eine Meinungsäußerung zu diesen Fragen zu erwarten. Ich sah aber, dass dieser ihn kaum beachtete: Er hatte gerade eine Zigarette in der Hand, die er kurz zuvor hervorgeholt hatte, und klopfte mit ihrem Ende auf den mit erhabenen Buchstaben und Linien verzierten Deckel seiner silbrig glänzenden Zigarettendose. Auf seinem Gesicht lag ein versunkener Ausdruck, und mir schien, er war in irgendwelchen fernen Gedanken verloren und hatte von der ganzen Geschichte überhaupt nichts mitbekommen. Dann hat der andere von neuem von seinem Pech angefangen: Wäre er nur fünf Minuten später an der Endstation angekommen, dann hätte er den Mittagsbus nicht mehr erreicht, und wenn der nicht mehr dort gewesen wäre, hätte er nicht mehr auf den nächsten gewartet und dann – vorausgesetzt, all das wäre «um fünf Minuten verschoben» abgelaufen – würde er jetzt «nicht hier sitzen, sondern zu Hause», so hat er immer von neuem erklärt.
Na und dann erinnere ich mich noch an den Mann mit dem Seehundgesicht: Er war beleibt, trug einen dichten schwarzen Schnurrbart und eine Brille mit Goldrand und wollte fortwährend den Polizisten «sprechen». Es ist mir auch nicht entgangen, dass er das immer separat, in einiger Entfernung zu den anderen zu bewerkstelligen versuchte, nach Möglichkeit in einer Ecke oder bei der Tür. «Herr Kommissar», so vernahm ich hin und wieder seine erstickte, leicht krächzende Stimme, «könnte ich Sie mal sprechen?» Oder: «Ich bitte sehr, Herr Kommissar … nur auf ein Wort, mit Verlaub …» Schließlich hat der Polizist dann auch einmal gefragt, was er denn wünsche. Da aber schien er zu zögern. Er ließ seine Brille misstrauisch in die Runde blitzen. Und obwohl sie diesmal in einer Ecke des Raums standen, die ziemlich in meiner Nähe war, habe ich dem dumpfen Gemurmel dann doch nichts entnehmen können: Irgendetwas schien er immer wieder zu beteuern. Dabei erschien so ein vertrauliches, süßliches Lächeln auf seinem Gesicht. Gleichzeitig neigte er sich erst ein bisschen, dann stufenweise immer mehr und schließlich ganz zu dem Polizisten hin. Dazwischen, noch immer zur gleichen Zeit, sah ich ihn auch eine seltsame Geste machen. Die Angelegenheit war mir nicht ganz
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