Romana Exklusiv 0197
gefühlskalt? Diese Frage hatte sie sich am Vorabend zum ersten Mal gestellt.
Sie hörte Stimmen und Geräusche im Haus. Offenbar waren die anderen jetzt auch aufgestanden. Aber sie hatte noch keine Lust, sich zu ihnen zu gesellen. Stattdessen setzte sie sich in den Sessel und ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, womit sie sich die ganze Nacht herumgequält hatte.
Sie, Lysan Hadley, war zweiundzwanzig Jahre alt und lebte bei ihren Eltern in Luscombe in der Grafschaft Berkshire. Seit beinah drei Monaten war sie mit Noel Whitmore verlobt – eine Tatsache, die sie immer noch ziemlich verwirrend fand, vor allem weil sie sich nicht so recht erklären konnte, weshalb sie überhaupt eingewilligt hatte, ihn zu heiraten.
Sie kannte Noel seit ihrer Kindheit. Sein Vater und ihrer waren die gemeinsamen Inhaber von Hadley and Whitmore gewesen, einer Weinimportfirma. Jetzt stand ihr Vater allein an der Spitze des Unternehmens, während Lysans Bruder Todd für den Einzelhandel zuständig war und Noel für den Großhandel. Lysan selbst arbeitete in der Verwaltung.
Schon lange war es der Wunsch beider Familien, dass Noel und sie heiraten würden, doch sie hatte in ihm nie etwas anderes als einen guten Freund gesehen. Aber dann waren vor drei Monaten Noels Eltern bei dem Absturz des Privatflugzeugs, das sein Vater gesteuert hatte, ums Leben gekommen.
Alle waren über Susan und Vernon Whitmores plötzlichen Tod schockiert gewesen. Als sich die Trauergäste nach der Beerdigung in Noels Haus versammelten, fiel Lysan auf, dass Noel, der keine anderen Verwandten mehr hatte, schon eine ganze Weile verschwunden war. Sie suchte ihn und fand ihn im Arbeitszimmer seines Vaters.
Mit tränenüberströmtem Gesicht saß er am Schreibtisch. Lysan empfand tiefes Mitleid mit ihm und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Noch während sie überlegte, sich auf Zehenspitzen davonzuschleichen und Noel seinem Kummer zu überlassen, hob er den Blick.
„O Lysan!“, rief er verzweifelt.
Sie brachte es nicht übers Herz, ihn allein zu lassen, sondern eilte mit ausgebreiteten Armen zu ihm, um ihn zu trösten. Er barg das Gesicht an ihrer Brust und legte ihr die Arme um die Taille. Eine Zeit lang weinte er sich aus. Schließlich seufzte er auf.
„Geht es dir wieder besser?“, fragte sie und löste sich von ihm.
„Ich habe jetzt niemanden mehr“, sagte er leise und undeutlich.
„Das stimmt nicht! Du gehörst doch zu uns, zu unserer Familie!“
„Wirklich?“ Er schaute sie an.
Mit einem Taschentuch wischte sie ihm sanft die Tränen weg. „Ja, das war schon immer so“, erwiderte sie lächelnd. Es gefiel ihr nicht, ihn so unglücklich zu sehen.
„Willst du mich heiraten?“
Sprachlos blickte Lysan ihn an. Die Frage traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. An so etwas hatte sie nie gedacht. Doch Noel war so verstört, dass sie ihm nicht wehtun und erklären wollte, von Heirat könne keine Rede sein.
Offenbar legte er ihr Schweigen als Zustimmung aus, denn als plötzlich ihr Vater ins Zimmer kam, verkündete Noel: „Lysan hat soeben eingewilligt, meine Frau zu werden.“
Mit Rücksicht auf das Unglück, das ihn getroffen hatte, widersprach sie ihm nicht.
Ihre Eltern und ihr Bruder hatten sich sehr über die Verlobung gefreut, und voller Mitgefühl wegen des schweren Verlustes, den Noel erlitten hatte, war Lysan zu dem Schluss gelangt, dass ihre Bedenken wahrscheinlich unnötig waren. Noel war ein großartiger Mensch, und viele junge Frauen wären über seinen Heiratsantrag glücklich gewesen.
Plötzlich dachte Lysan wieder an Enrico Viveros, den attraktiven Chilenen, der in einem Vorort von Santiago ein Weingut besaß und ihren Vater vor einem Monat geschäftlich besucht hatte.
Rasch rief sie sich zur Ordnung. Ich sollte mir Gedanken um Noel und mich machen statt um diesen Südamerikaner, den ich kaum kenne und wahrscheinlich nie wiedersehe, mahnte sie sich.
Sie verdrängte die Erinnerungen an den großen blonden und blauäugigen Mann und konzentrierte sich darauf, herauszufinden, weshalb sie so beunruhigt war.
Natürlich liebe ich Noel, sagte sie sich bestimmt, obwohl es ihr sehr seltsam vorkam, dass sie am Vorabend nichts empfunden hatte, als seine Küsse viel leidenschaftlicher und fordernder geworden waren als sonst und er mit ihr hatte schlafen wollen. Sie war nur verwirrt und etwas peinlich berührt gewesen.
Als ihr Blick auf die Uhr fiel, wurde ihr bewusst, dass sie nicht länger herumsitzen durfte, wenn sie
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