Romana Extra Band 1
nichts dringlicher herbeigesehnt hatte, als Estellencs endlich für immer den Rücken kehren zu können? Was hatte sich seitdem bloß verändert?
Und obwohl Estellencs für sie so viele traurige Erinnerungen barg, brachte sie dieses Haus noch immer am ehesten mit einem Gefühl von Daheim-Sein in Verbindung. Ob sie es nun wollte oder nicht, hier lagen ihre Wurzeln. Helen und Lindy hatten das einfach nur viel früher begriffen und akzeptiert als sie.
Beth hatte die beiden lange nicht mehr so glücklich und ausgelassen erlebt wie seit der Rückkehr nach Estellencs. Gab es eine Möglichkeit, ihnen hier eine Zukunft zu ermöglichen?
Onkel Timothy schien wirklich froh darüber zu sein, nicht mehr allein in dem großen Haus leben zu müssen. Beth konnte sich gut vorstellen, dass er sich damit einverstanden erklären würde, ein solches Arrangement auch auf Dauer einzugehen.
Doch damit war ihnen nur geholfen, wenn es ihr irgendwie gelang, Lyle bei der Stange zu halten. Alles stand und fiel mit ihrem Job. Wenn sie ihn verlor, war alles aus.
Es muss doch etwas geben, was du unternehmen kannst, meldete sich eine energische Stimme in ihr. Die einzige Möglichkeit, die ihr einfiel, war, sich an Luís zu wenden. Und bei dem Gedanken stellte sich umgehend wieder das aufregende Kribbeln ein, das sie bei seinem Kuss durchrieselt hatte.
Dieser Kuss …
Sie seufzte unhörbar. Es war äußerst unprofessionell, dass sie es überhaupt so weit hatte kommen lassen. Doch sie bereute nichts, dazu hatte es sich zu gut, zu richtig angefühlt.
Ob es Luís ähnlich erging? Ob auch er nicht aufhören konnte, an sie zu denken?
Das Gespräch mit Lyle kam ihr in den Sinn. Sie war empört gewesen über seinen Vorschlag, ein bisschen nett zu Luís zu sein, weil sie genau wusste, was er damit meinte. Empört war sie immer noch. Aber vielleicht steckte ein Quäntchen Wahrheit in Lyles Worten. Offenbar fühlte sich Luís ebenso zu ihr hingezogen, wie es umgekehrt der Fall war. Musste sie nicht zumindest versuchen, daraus einen Nutzen zu ziehen?
„Was ist los, Beth?“ Onkel Timothys Stimme riss sie aus ihren Überlegungen. „Du bist so schweigsam. Schmecken dir die churros nicht?“
Erst jetzt merkte sie, dass sie eines der Gebäckstücke in der Hand gehalten hatte, ohne auch nur davon zu kosten. Lächelnd tunkte sie es in die Schüssel mit Schokoladensoße, die Lindy auf den Tisch gestellt hatte, biss ein Stück ab und seufzte genießerisch. „Köstlich! Ich weiß nicht, wie ich all die Jahre ohne churros zurechtgekommen bin.“
Als sie in die strahlenden Gesichter von Lindy und Helen blickte, wusste sie, dass sie noch längst nicht bereit war, aufzugeben.
Zwei Tage waren nach dem Ausflug mit Beth Coldwell vergangen, als Luís am frühen Abend durch die Terrassentür seines Wohnzimmers ins Freie trat. Ihm rauchte der Kopf vor lauter Papierkram. Da türmten sich Rechnungen sowie Anschreiben von Versicherungen und Stornierungen bereits fest vereinbarter Charterverträge. Kurz gesagt alles, was auch nur ansatzweise dazu angetan war, ihm die Stimmung zu vermiesen. Er brauchte dringend frische Luft.
Und möglichst eine Aufgabe, die sowohl seine Hände beschäftigte als auch seinen Geist.
Er entdeckte seinen dienstältesten Skipper bei einer der Jachten, wo er zwei Mitarbeitern Anweisungen erteilte. Als Luís seinen Namen rief, hob Manolo die Hand, ohne in seine Richtung zu blicken – eine Geste, die so viel besagte wie: „bin gleich bei dir, Boss!“ Nach der Einweisung kam Manolo zu Luís herüber.
„Schwierigkeiten?“ Mit dem Kinn deutete Luís in Richtung der Jacht, auf der die beiden Arbeiter verschwunden waren.
„Nicht mehr als üblich, Patrón. “ Manolo zuckte mit den Schultern. „Ramón kam gestern Abend mit den Rockmusikern zurück, die die Esmeralda gechartert hatten. Die Kerle haben ein heilloses Chaos auf der Jacht hinterlassen.“
Luís verzog das Gesicht. Die englische Rockgruppe war seit Wochen der erste vielversprechende Auftrag gewesen. Doch auch wenn die Leute gut gezahlt hatten, ging es nicht an, dass er die Einnahmen darauf verwenden musste, die Schäden zu beseitigen, die sie angerichtet hatten. Natürlich war er für solche Fälle versichert, und er würde dem Manager der Band auch sämtliche Reparaturen in Rechnung stellen. Doch wann er Geld sehen würde, stand in den Sternen.
„Ich weiß, was du denkst“, sagte Manolo, als habe er seine Gedanken gelesen. „Aber wir können trotzdem froh sein, denn es
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