Romana Extra Band 6
liebevolle Betreuerin wie Brigitte ließ sich nicht mit den strengen Zuchtmeistern seiner Kindheit vergleichen. Nein, sie oder Hannah Castillo einzustellen, war kein Fehler. In gewisser Weise habe ich mich dennoch meinen Vaterpflichten entzogen, gestand Michael sich selbstkritisch ein.
Entgegen allen guten Vorsätzen hatte er es in den ersten Monaten nach Samanthas Tod morgens kaum aus dem Bett geschafft. Es war Brigitte und Marissa überlassen geblieben, sich um Riley zu kümmern.
Doch schließlich gelang es seiner Tochter, den Schleier der Trauer zu durchdringen, der ihn umgab. Sie war gerade sechs Monate alt, als Marissa sie eines Morgens in die Küche brachte, wo er Kaffee trank und die Schlagzeilen in der Zeitung überflog. Sobald er aufsah, riss das kleine Mädchen die großen braunen Augen auf, klatschte in die Hände und sagte deutlich: „Papa!“
Dass sie ihren Altersgenossen in der Sprachentwicklung weit voraus war, war ihm zu dem Zeitpunkt nicht bewusst. Doch das eine Wort und ihr Lächeln genügten, um den Panzer aus Eis, der sich um sein Herz gebildet hatte, zum Schmelzen zu bringen.
In diesem Moment wurde ihm klar, dass er die ersten sechs Monate ihres Lebens verpasst hatte. Er schwor sich, künftig mehr Zeit mit ihr zu verbringen und ihr seine Liebe immer wieder aufs Neue zu beweisen. Sie war so winzig und zart, und wenn er sie im Arm hielt, kam er sich vor wie ein tollpatschiger Riese. Aber da sie ihm jede Aufmerksamkeit mit einem Lächeln dankte, wuchs sein Selbstvertrauen im Umgang mit ihr rasch.
Kurz nach Rileys zweitem Geburtstag stellte Brigitte überrascht fest, dass die Kleine schon lesen konnte, und wenig später klimperte die Prinzessin erste Melodien auf dem Klavier. Untersuchungen ergaben, dass sie hochbegabt war.
Natürlich war Michael stolz – und gleichzeitig besorgt. Zum Glück zeigte sich Brigitte der Situation gewachsen. Sie beriet sich mit Spezialisten und veranlasste alles Nötige, um Rileys Talente zu fördern.
Zur selben Zeit war die Werbefirma, die er mit Samantha gegründet hatte, in Schwierigkeiten geraten. Er hatte sich ganz aufs Geschäft konzentriert und seine Tochter dankbar dem kompetenten Kindermädchen überlassen.
Mittlerweile stand seine Firma wieder gut da, Riley machte einen gesunden und zufriedenen Eindruck, Brigitte würde bald heiraten und nach Island auswandern, und er hatte ein Kindermädchen für den Sommer gefunden.
Er sollte also rundum zufrieden sein, doch unerklärlicherweise quälte ihn die Vorstellung, dass Hannah Castillo sein Leben auf den Kopf stellen könnte. Lediglich in seinem Herzen herrschte seit Samanthas Tod eine große Leere. Dass sich daran jemals etwas ändern würde, glaubte er nicht – er wünschte es nicht einmal. Nie würde er eine andere lieben wie sie, keine Frau konnte ihren Platz einnehmen.
Einladende Blicke zu ignorieren, fiel ihm nicht schwer. Auch eindeutige Angebote reizten ihn nicht. Aber als Hannah Castillo in sein Büro kam, hatte sich etwas in ihm geregt … etwas, das er nicht ergründen konnte.
Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, eine hübsche junge Frau als Kindermädchen einzustellen. Er hatte sich in dem Vorstellungsgespräch um einen professionellen Ton bemüht, dennoch war ihm nicht verborgen geblieben, wie schön die Nichte seines Arztes war.
Die schlanke Frau von etwa einem Meter fünfundsechzig hatte ihre Vorzüge in keiner Weise betont, doch selbst in dem dezenten Hosenanzug kam ihre tolle Figur zur Geltung. Das zu einem straffen Knoten hochgesteckte blonde Haar hätte ihr einen Hauch von Strenge verliehen, wären da nicht die warmen blauen Augen, die vollen Lippen und ihr faszinierendes Lächeln gewesen.
Noch während er ihr den Job anbot, hatte er sich gefragt, ob er einen Fehler beging, sich dann aber mit dem Gedanken beruhigt, dass es ohnehin nur für zwei Monate war.
Nun, da sie fort war und er allmählich wieder klar denken konnte, beschlich ihn das Gefühl, dass der Sommer sich unerwartet in die Länge ziehen könnte.
2. KAPITEL
Hannah leerte ihren Kleiderschrank und verteilte den Inhalt auf zwei Haufen: einen zum Einlagern, einen zum Mitnehmen nach Cielo del Norte.
Ursprünglich hatte sie geplant, in den Ferien in China Englisch zu unterrichten, und ihr Apartment für den Sommer untervermietet. Ein Bekannter hatte ihr die Stelle vermittelt, zusammen mit einer Unterkunft, die er mit ihr teilen wollte. Als sich herausstellte, dass er mehr von ihr erwartete, als sie zu geben bereit
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