Romanzo criminale
aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, auf und ab, zwischen dem winzigen, stets leeren Kühlschrank, einem Haufen verstaubter Bücher und dem Schwarzweißfernseher, der nur RAI empfing. Er dachte über die Grenze zwischen Gut und Böse nach und über seinen Platz in der Welt. Er wollte Ruhm, er wollte die Mädchen, die er sich nicht anzusprechen getraute, er wollte Veränderung. Sie durften ihn nicht suspendieren. Er hatte nicht vor, wieder Akten zu ordnen.
Er vertiefte sich in die Rosellini-Akte. Falsche Zeugenaussagen. Fragwürdige Informationen. Falscher Alarm. Geistesgestörte Größenwahnsinnige. Leere. Er fragte sich, ob die gewaschenen Geldscheine Informationen liefern konnten. Ein Teil des Lösegelds, weniger als fünf Prozent, hatte aus markierten Scheinen bestanden; man hatte sie ohne das Wissen der Familienangehörigen eingeschleust. Jemand hatte eine Liste erstellt. Drei Scheine waren auf Sardinien aufgetaucht. Die Polizisten hatten die Sarden in die Mangel genommen. Unerbittliches Schweigen. Ein Dutzend Scheine in Kalabrien. Die Finanzpolizei hatte einem kleinen Fisch von der ’Ndrangheta die Ohren langgezogen. Ebenfalls unerbittliches Schweigen. Mehrere Scheine in Rom. Auch in Rom waren Scheine aufgetaucht. Sieben Fünfziger, vier Hunderter: elf Scheine von insgesamt vierundzwanzig. Scialoja nahm Papier und Füllfeder und zeichnete ein Diagramm. Zwei Banknoten in Monteverde. Neun Banknoten im Esquilino. Neun Scheine im selben Viertel. Ein Tabakladen. Eine Boutique. Eine Drogerie. Noch ein Tabakladen. Ein Dessousgeschäft. Noch eine Drogerie. Ein Damenfriseur. Ein Schuhgeschäft. Noch ein Dessousgeschäft. Alle lagen zwischen Via Urbana, Via Paolina, Via di Santa Maria Maggiore, Via Cavour. Ein Viereck von wenigen hundert Quadratmetern. Die Inhaber der Läden waren verhört worden: Ich erinnere mich nicht, keine Ahnung, vielleicht Laufkundschaft. Kunden im immer gleichen Umkreis. Und wenn es nur ein Kunde war? Tabakladen. Dessousgeschäft. Damenfriseur. Drogerie. Es war eine Frau. Eine Frau. Scialoja nahm den winzigen Kühlschrank in Augenschein und machte ihn frustriert wieder zu. Er ging in ein Studentenlokal zum Abendessen. Die Studenten waren laut. Die Studenten küssten sich. Bis vor wenigen Jahren war er selbst Student gewesen. Er lebte noch immer wie ein Student. Das einzige, was ihm fehlte, war eine tüchtige Studentin. Er dachte an das Mädchen an der Kassa im Café in der Via Golametto. Sexszenen schossen ihm durch den Kopf. Er und das Mädchen aus der Bar. Das Mädchen aus der Bar und der ältere Kollege von der Sitte. Sie und Borgia. Die Einsamkeit stieg ihm schön langsam in den Kopf. Er aß das verkohlte Huhn und den Zichoriensalat und kehrte zu seinem Akt zurück. Eine Frau. Eine Frau vom Esquilin. Wie viele gab es davon? Zehntausend? Zwanzigtausend? Er fantasierte. Ein Nachbericht war in keiner Weise gerechtfertigt. Er verlor nur Zeit. Er würde bei der Sitte landen. Oder im Büro. Pässe stempeln. Er ging zu Bett. Er träumte von dem Mädchen in der Bar. Mitten in der Nacht wachte er aus einem feuchten Traum auf. Er überprüfte die Daten. Die Scheine waren nicht am selben Tag ausgegeben worden. Neun Läden an zwanzig Tagen. Damengeschäfte. Eine Frau. Eine Frau, die raucht. Eine Hure. Eine Bande entführt den Baron. Die Verwandten zahlen Lösegeld, aber die Geisel wird nicht freigelassen. Die Verbrecher teilen die Beute auf. Ein Verbrecher bezahlt mit den Scheinen aus dem Lösegeld eine Hure. Die Frau gibt einen Schein, zwei Scheine aus. Der Verbrecher geht wieder zu ihr. Er bezahlt sie aufs Neue. Wieder Scheine. Sie geht am Esquilin anschaffen. Der Verbrecher ist ein treuer Kunde. Scialoja spürte, dass er nahe dran war. Der Schlaf war vergangen, die Bilder in seinem Kopf hatten nun einen anderen Charakter. Eine Festnahme. Eine Reihe von Festnahmen. Junger Beamter löst den Fall Rosellini. Jetzt ging es nur noch darum, Borgia zu überzeugen. Er brauchte Männer. Mittel. Vor allem Zeit. Am Morgen darauf musste er den stellvertretenden Staatsanwalt nicht lange überzeugen. Seine Versetzung zur Gerichtspolizei war aufgehoben. Er unterstand wieder dem Leiter der Ermittlungsbehörde. Mit sofortiger Wirkung. Scialoja musste noch zwanzig Urlaubstage aufbrauchen. Er beschloss, sie in eine Wette auf die Zukunft zu investieren. Er feierte mit einem Campari in der Bar in der Via Golametto. Anstelle des Mädchens saß ein bärtiger Student an der Kassa, der in den Arbeitspausen Wittgensteinzitate
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