Romanzo criminale
Kinnhaken, der heftig genug war, um einen schönen blauen Fleck zu hinterlassen. Dann kletterte er durchs Fenster. Nero wartete im Auto auf dem Piazzale. Der Arzt hatte dafür gesorgt, dass eine Fahrbahn frei und unbewacht war. Und los, in die Frühlingsluft, die nach Auspuffgasen und Mandelblüten roch. Der Geruch der Auferstehung.
Die Zeitungen waren zuerst in heller Aufregung, dann gingen sie zu offenem Spott über. Die Justiz war undicht wie ein Nudelsieb, Sicherheit war eine Chimäre und Schuld an allem hatten natürlich die Richter. Zu lasch. Zu sehr auf den Schutz der Verfassungsrechte bedacht. Wie hatte man den Wehwehchen eines Gangsterbosses Glauben schenken können? Genau. Zuerst hatten sie echtes Mitleid wegen des siechen Verbrechers empfunden ... und jetzt, wo Freddo abgehauen war, schworen sie, dass sie von Anfang an den Braten gerochen hatten! Wenn man sie gefragt hätte ... Auch der Staatsanwalt schäumte vor Wut. So eine Geschichte konnte einem wirklich den Posten kosten. Er rief Borgia zu sich und wusch ihm den Kopf. Er wollte nicht als Trottel dastehen.
– Sie hätten ihn engmaschiger überwachen sollen. Zwei Fluchten in einem Monat. Das ist ein Skandal. Man lacht uns aus.
– Wir werden Nachforschungen anstellen.
Sie stellten Nachforschungen an. Sie stellten eine Spezialeinheit von Polizisten und Carabinieri auf die Beine, die rund um die Uhr im Dienst war. Sie montierten Mikrofone. Sie hörten Gespräche ab. Sie beschatteten Familienangehörige und Geliebte. Sogar Anwalt Vasta rückten sie auf die Pelle, aber der schickte sie eiskalt zum Teufel: Freddo war nur ein Mandant und er ging mit seinen Mandanten nicht ins Bett. Mit einem Wort, alles vergeblich. Roberta kam ins Kommissariat und zeigte das Verschwinden ihres Freundes an. Sie war besorgt. Sie fürchtete, sagte sie, seine alten Freunde hätten ihn umgelegt. Der diensthabende Polizist rief Scialoja an. Scialoja sagte, er solle ihre Aussage zu Protokoll nehmen und sie gehen lassen. Als Borgia davon erfuhr, wurde er fuchsteufelswild. So laut, dass alle ihn hören konnten, brüllte er, man müsse sie verhaften, sie wegen Begünstigung anklagen, sie um Himmels willen unter Druck setzen. Er ließ Scialoja holen. Der ließ ihm ausrichten, dass er außer Dienst war. Er bombardierte ihn mit Briefen. Keine Antwort. Scialoja hatte keine Zeit zu verlieren. Nicht mit Borgia. Nur, um keine Zeit zu verlieren, hatte er auf Genua verzichtet. Sie waren weit, sehr weit ins Herz des Systems vorgedrungen. So weit, dass sie den Kloakengestank gespürt hatten. Und in diesem Augenblick hatte Borgia einen Rückzieher gemacht. Der Richter wollte nicht glauben, dass es den Gestank wirklich gab. Er hatte sich geweigert, ihn anzuerkennen. Dabei war Borgia einer der Besten! Würde er ihm je verzeihen können? Das war unwichtig. Die korrekte Frage lautete: Wie würde er sich beim nächsten Mal verhalten? Scialoja stellte sich eine weniger direkte Strategie vor. Die Kraft der Dinge würde sie aufs Neue zu Vecchio führen. Wieder einmal: ins Herz des Systems. Und in diesem Augenblick würde es kein Zaudern gaben. Das As, das er im Ärmel hatte, hieß Trentadenari. Er hatte ihn besucht. Einmal, zweimal. Er hatte in seinem Blick gelesen: Angst, Verrat. Aber in dem Augenblick, in dem Scialoja alle Regeln verletzte, in dem er auch den Rest an Legalität, dem er sich verpflichtet fühlte, über Bord warf, ihm ein Abkommen vorschlug, hatte der Neapolitaner den Kopf geschüttelt.
– So einfach ist das nicht, Doktor. Die anderen sind zu stark!
Das waren Trentadenaris Worte gewesen. Er würde sie Lügen strafen. Solange der Generalstab im Knast war, war Trentadenari der absolute Herr der Situation. Hatte er sie ausgenutzt? Wahrscheinlich: Moral war wohl nicht seine hervorstechendste Eigenschaft, sofern er überhaupt eine besaß. Aber wichtig war etwas ganz anderes: Die anderen sollten glauben, dass er sie über den Tisch zog. Scialoja wusste, dass sie den Knast in der Hand hatten. Er hatte zwei oder drei Wärter gefunden, die einen gewissen Ruf hatten, und sie vor die Alternative gestellt: kollaborieren oder auffliegen. Die Wärter hatten keine Wahl. Jetzt beschuldigte Radio Carcere Trentadenari ganz offen des Diebstahls. Zwei unbestechliche Vertrauensmänner folgten ihm wie ein Schatten. Der Befehl lautete zu beobachten, auf keinen Fall einzugreifen. Er hatte den Baum geschüttelt. Die Frucht würde abfallen, sobald sie reif war. Deshalb hatte er auf Genua verzichtet.
Weitere Kostenlose Bücher