Romeo für immer, Band 02
gerichtet, und sie lässt kraftlos die Arme hängen. Wieder habe ich den Eindruck, als sei sie plötzlich nur noch eine leere Hülle.
»Geht es dir gut?«
Sie sieht mich an, aber sie ist … wie ausgeknipst. »Nein. Aber das ändert sich bald.« Sie streicht mir das Haar aus dem Gesicht. »Jetzt geh schon. Das ist dein Stichwort.«
Ich nicke. Aber das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, lässt mich nicht los. Ich eile hinter den Kulissen zur Bühne und nehme von Mrs Mullens das Mikrofon entgegen. Dann warte ich mit vor Anspannung verkrampften Kiefermuskeln auf meinen Einsatz. Ich sage mir, dass Ariel unter Schock steht, weil sie ihre Mutter verlassen und in Zukunft alleine zurechtkommen muss. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass das der Grund für Ariels leeren Gesichtsausdruck ist.
Ein Mädchen im schwarzen Kapuzenshirt tritt aus den Falten des Vorhangs. Ich sehe in Gemmas Gesicht und weiß sofort, dass ich in Schwierigkeiten stecke. Ihre gequälte Miene und die Panik in ihren Augen sagen alles.
»Was macht du … «
»Schnauze, Stroud. Für deine bescheuerten Spielchen ist jetzt keine Zeit«, zischt Gemma. »Du bist echt der letzte Dreck, und ich kann dich leiden wie Bauchweh, aber ich wünsche dir nicht den Tod.«
Tod. Das Wort findet seinen Weg in mein Innerstes und liegt dort wie eine tickende Zeitbombe, schwer und bedrohlich. Tödlich. Als Söldner war ich fast unverwundbar, aber nun …
Nun bin ich nicht einmal ein Botschafter. Ich habe keine Ahnung, was mit mir geschieht, wenn ich in Dylans Körper getötet werde, aber ich befürchte, es wird nichts Gutes sein. Vielleicht wandere ich bis in alle Ewigkeit durch den Nebel des Vergessens, wie die Botschafter, die ich getötet habe. Möglicherweise durchlaufe ich aber auch alle Stufen der Verwesung, wie es mein Macher für mich vorgesehen hat, und werde zu einer der verlorenen Seelen, die Ariel mit ihren Schreien quälen. So oder so könnte ich niemanden mehr beschützen.
»Du darfst nicht auf die Bühne.« Gemma hält mich am Ärmel meines Smokings fest. »Ich weiß, du musst mich für verrückt halten, aber vertrau mir – geh da nicht raus. Schleich dich auf der anderen Seite hinter den Vorhängen zur Hintertür und … «
»Warum?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Ich verspreche, dass ich dir glauben werde«, beharre ich.
Sie zögert. Doch als sich die Musik ändert, sieht sie ein, dass keine Zeit für Diskussionen ist. Das Lied ist gleich zu Ende.
»Als Ariel mir heute Nachmittag meinen Schmuck gebracht hat, bat sie mich, nicht zum Schulball zu kommen. Sie meinte, sie wolle nicht, dass mich jemand sieht.« Gemma atmet tief ein. Widerstrebend berichtet sie weiter. »Ich habe ihr gesagt, das sei mir egal. Ich wollte auf keinen Fall verpassen, wie du dein Fett wegkriegst. Heute Morgen haben wir uns nämlich in die Cafeteria geschlichen und … «
»Ich weiß von dem Video.«
Fassungslos sieht sie mich an. »Was?«
»Es ist mir egal«, sage ich und erwidere ihren Blick. »Ich finde es nicht schlimm.«
Gemma packt mich am Ellbogen und zieht mich zurück, bevor ich auf die Bühne treten kann. »Und was sagst du dazu? Findest du das auch nicht schlimm?« Sie zieht sich die Kapuze vom Kopf und deutet auf die Wunde an ihrer Schläfe. Das Blut ist bereits verkrustet, aber die Verletzung ist frisch. »Als ich Ariel sagte, dass sie sich wie eine Irre benimmt und dass ich ihre Mutter anrufen will, hat es bei ihr ausgesetzt. Sie meinte, ich solle aus Solvang verschwinden und nie wieder zurückkommen, weil ich sonst sterben müsse. Oder als Komplizin in einem Mordfall ende. Und dann hat sie mir die Lampe auf den Kopf gehauen.«
Die Zeit bleibt stehen. Die Musik aus den Lautsprechern klingt mit einem Mal seltsam verzerrt. Ich kann kaum atmen. Ariel hat mir erzählt, Gemma und sie hätten bei einer Cola überlegt, wie sie zukünftig Kontakt halten wollten. Anscheinend war das gelogen. Sie muss gelogen haben, denn Gemma sagt ganz offensichtlich die Wahrheit. Ihr Kummer und ihr Schmerz sind echt.
Es gibt nur einen Grund, warum Ariel mich belügen sollte. Einen einzigen grauenhaften Grund.
»Ich war kurz bewusstlos, wie lange genau, weiß ich nicht.« Gemma wischt sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts die Nase. »Mike ist vor einer Stunde zurückgekehrt und hat mich geweckt. Er hat mich überreden wollen abzuhauen, aber ich musste dich unbedingt warnen.«
»Dylan! Mach dich bereit, es ist Zeit«, zischt Mrs Mullens hinter mir. Die letzten Töne von »Maria«
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