Romeo für immer, Band 02
bevor meine Mutter Angst bekommt und die Polizei ruft. Sie hat Spätschicht, das ist immerhin etwas. Heute Abend wird sie frühestens um elf aus dem Krankenhaus kommen und kaum vor halb zwölf zu Hause sein. Wahrscheinlich wird sie erst nervös werden, wenn ich nach Mitternacht noch nicht daheim bin. Wir haben nicht darüber gesprochen, wann ich spätestens zu Hause sein muss. Ich war ja noch nie mit einem Jungen aus. Wenn Gemma gerade mal keinen Freund hatte, haben sie und ich uns meist in meinem Zimmer aufgehalten. Aber ich weiß, dass meine Mutter beunruhigt sein wird, wenn ich nach Mitternacht noch nicht da bin. Es hat mich ohnehin überrascht, dass sie mir erlaubt hat, mich an einem Dienstagabend, mitten in der Woche, mit Dylan zu verabreden. Aber sie hat sich so darüber gefreut, dass ich endlich einmal mit einem Jungen verabredet war, dass sie mir wahrscheinlich alles erlaubt hätte: die Schule zu schwänzen, Drogen zu nehmen und den ganzen Tag mit Dylan in meinem Zimmer zu verbringen und mit ihm rumzumachen. Ich hätte sie nur fragen müssen.
Ihre Begeisterung ist wirklich erbärmlich.
Ich glaube, meine Mutter denkt, es sei ihre Schuld, dass ich noch nie einen Freund hatte. Als ich sechs war, ist ihr ein Topf mit heißem Öl heruntergefallen. Daher stammen die Narben in meinem Gesicht. Sie sind auch der Grund für mein »viel zu geringes Selbstwertgefühl«. Dabei habe ich ihr gesagt, dass ich ihr verziehen habe. Ich habe sogar angedeutet, dass es andere Gründe gibt, warum Jungs mir zuwider sind, Gründe, die mit den Narben in meinem Gesicht nichts zu tun haben. Aber sie glaubt mir nicht. Sie denkt wohl, ich würde ewig alleine bleiben, wenn sich nicht bald etwas ändert.
Ich hatte gehofft, der neue Dylan könnte vielleicht etwas ändern. Er hat sich zwar früher dauernd über mich lustig gemacht, aber in letzter Zeit schien es nicht mehr so, als wäre ich ihm zuwider. Weder vorher noch nachher.
Weder bevor ich ihn beinahe umgebracht hätte, noch nachdem er mir hinterhergefahren ist und sich bis auf die Knochen blamiert hat, nur um mich zum Essen einladen zu dürfen. Welcher ist der wahre Dylan? Derjenige, der gewettet hat, dass er es schafft, den Schulfreak zu entjungfern? Oder der Dylan, der glaubt, ich sei ein guter Mensch und verdiene ein glückliches Leben? Ist der Dylan echt, der für mich gesungen und getanzt hat, oder der Dylan, der meine beste Freundin für ein Flittchen hält?
Ich habe keine Ahnung, aber ich würde es gerne herausfinden. Doch wenn ich nicht bald zu Hause bin, wird es nie dazu kommen. Meine Mutter wird mir bis in alle Ewigkeit Hausarrest geben, wenn ich erst nach Mitternacht aufkreuze.
Erneut erteile ich meinen Händen den Befehl, sich zu bewegen. Diesmal gehorchen sie. Meine Finger krümmen sich, und langsam, Millimeter für Millimeter, ziehe ich die Handflächen über die Erde und stemme mich auf zitternden Armen hoch. Als ich endlich auf meinen Beinen stehe, bebe ich am ganzen Körper und mir ist speiübel, doch ich kämpfe dagegen an und bleibe aufrecht stehen. Ich recke das Kinn und atme die kühle, frische Luft tief ein. Mein Magen beruhigt sich etwas. Ich schaue mich um, lasse den Blick über die Rebstöcke schweifen und erkenne die Plastiktürme des Schlossspielplatzes.
So ein Glück. Ich wohne in der Nähe des Spielplatzes. Wenn meine Beine mitmachen, kann ich in zehn Minuten zu Hause sein.
Stolpernd laufe ich durch die Weinstöcke und nehme die Abkürzung über den Fußballplatz gleich neben dem Spielplatz. Die Türme und Brücken, die die Spielgeräte miteinander verbinden, bilden im Mondlicht eine märchenhafte Silhouette. Mir schießt durch den Kopf, dass ich mit Dylan hierher hätte gehen sollen anstatt auf den Raketenspielplatz in Los Olivos. Aber ich habe schlimme Erinnerungen an den Schlossspielplatz. Schreiende und kreischende Gestalten, die mit dem Finger auf mich zeigen, während ich davonlaufe.
Meine Mutter hat mich als Kind oft hierhergebracht. Damals, einige Monate nach dem Unfall, war meine Haut immer noch tiefrot und mein Haar nicht richtig nachgewachsen. Durch das heiße Öl hatte ich auf einer Seite schwere Verbrennungen erlitten, und man hatte mir die Haare ganz abschneiden müssen. Es gab nichts mehr, womit ich meine Narben hätte verdecken können. Ich hatte noch keinen Vorhang aus Haaren, hinter dem ich mich verstecken konnte, wenn die anderen Kinder mich anstarrten. Ein Mädchen zeigte auf mich und rief, dass unter der Brücke ein Troll
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