Romeo für immer, Band 02
kitschig fand. Ich habe siebzehn Jahre in diesem Haus verbracht, ich bin darin aufgewachsen und war täglich mehrere Male im Bad, ohne dieses Dekor auch nur ein einziges Mal zu bemerken. Jetzt kann ich das Bad nicht mehr betreten, ohne die Blümchen auf den rosa Fliesen anzustarren. Wenn man erst einmal etwas gesehen hat, kann man es nicht ungesehen machen. Ich betrachte nachdenklich das Dekor und frage mich, was mir wohl sonst noch entgangen ist.
Dass die Liebe meiner Mutter dazugehört, hätte ich nicht gedacht.
»Es tut mir leid, wenn ich dir das zu selten sage«, entschuldigt sie sich.
Ich habe einen dicken Kloß im Hals. »Du sagst es oft.«
»Findest du? Manchmal denke ich, dass ich es dir nicht häufig genug sage. Ich befürchte, ich war dir nicht immer die Mutter, die du gebraucht hättest.«
Ein seltsames D é jà-vu-Gefühl beschleicht mich. Ich weiß genau, dass sie so etwas noch nie zu mir gesagt hat, aber es fühlt sich an, als hätte sie es doch getan. Das ist verwirrend. »Du bist schon okay, Mom. Mir geht’s gut«, antworte ich, und meine Stimme zittert.
»Wirklich?«, fragt sie und sieht mich zweifelnd an.
Ihre blauen Augen sind heller als meine, ansonsten sehen wir uns so ähnlich wie Schwestern. Wir haben beide langes weißblondes Haar und eine sehr schlanke Figur. Unsere Ellbogen scheinen im Verhältnis zu unseren dünnen Armen viel zu groß zu sein. Und jede von uns hat die Marotte, sich auf die schmalen Lippen zu beißen, wenn sie etwas bedrückt. Mom war kaum älter als ich jetzt, als ich auf die Welt kam. Sie war ganz auf sich allein gestellt, mein biologischer Vater hatte sie verlassen, nachdem sie keine Abtreibung wollte. Zum ersten Mal begreife ich, was das für sie bedeutet haben muss. Die Erkenntnis trifft mich mit voller Wucht, erschreckend und Respekt einflößend zugleich. Unfassbar, dass ich den Menschen, für den sie fast alles tut, beinahe getötet hätte. Wie konnte ich nur denken, dass mein Tod eine Erleichterung für sie sein würde?
Vielleicht brauche ich tatsächlich einen Psychiater, ich bin wohl verrückter, als ich dachte.
»Du bist toll«, stammle ich und kämpfe gegen meine aufsteigenden Tränen an. »Ich hab dich lieb, Mom.« Aufgewühlt werfe ich die Arme um ihre Schultern. Sie zieht mich an sich. Wir verharren lange regungslos und halten uns in den Armen. Ich merke plötzlich, dass sie mir nur bis an die Wangenkochen reicht. Ich bin ein ganzes Stück größer als sie. Auch das fällt mir jetzt erst auf.
Schließlich löst sie sich lächelnd aus der Umarmung. »Schön, dass wir uns ausgesprochen haben.«
»Ja.« Ich sehe verlegen zu Boden, aber es ist mir keineswegs unangenehm. »Danke.«
»Na dann, warum gehst du nicht duschen?«, sagt sie. »Wirf deine schmutzigen Sachen einfach in den Flur, und ich schmeiße sie in die Waschmaschine.«
»Aber das ist doch nicht nötig.« Sie hat sich nicht mehr um meine Wäsche gekümmert, seit ich zwölf bin. Ich fühle mich zu erwachsen, um zuzulassen, dass sie meine vollgepinkelte Jeans anfasst. Außerdem weiß ich, dass sie von ihrer Arbeit ziemlich erschöpft sein muss. »Meine Jeans ist eklig. Du musst sie nicht … «
»Schatz, ich bin Krankenschwester. Ich habe täglich mit weitaus schlimmeren Dingen zu tun. Außerdem habe ich ohnehin einen ganzen Berg Wäsche. Die Sachen kommen in die Waschmaschine und wandern anschließend in den Trockner. Morgen können wir sie ja dann gemeinsam zusammenlegen.«
»Na gut.« Ich will ins Bad gehen, aber sie hält mich zurück.
»Warte mal«, sagt sie und schnippt mit den Fingern, wie sie es immer tut, wenn ihr plötzlich etwas einfällt. »Ich wollte dir noch sagen, dass Wendy mich morgen zur Arbeit abholt. Wenn du möchtest, darfst du mit dem Auto zur Schule fahren, dann kannst du etwas länger schlafen.«
Bis vor Kurzem hat Gemma mich immer zur Schule mitgenommen. Seit sie vor zehn Tagen verschwunden ist, bin ich immer sehr früh aufgestanden und zu Fuß zur Schule gegangen, weil ich auf keinen Fall den Schulbus nehmen wollte. Niemand über sechzehn fährt noch mit dem Bus zur Schule. Außerdem kann ich die Vorstellung von all den ganzen Kindern, die mich beim Einsteigen anstarren würden, einfach nicht ertragen.
Ich hatte keine Ahnung, dass meine Mutter mein frühes Aufstehen bemerkt hat, aber anscheinend hat sie das sehr wohl.
»Danke.« Ich hoffe, sie weiß, dass ich damit nicht nur das Auto meine.
»Gerne.« Sie lächelt. »Aber sei bitte leise, wenn du aus dem
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