Romeo für immer, Band 02
schlafen und das Grauen nur zu träumen, als wach zu sein und zu fühlen, wie das echte, lebendige Böse in die Gruft schleicht, gierig nach Blut und Schmerz.
6
Ariel
I ch weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Als ich aufwache, mit dem Gesicht im Dreck, habe ich das Gefühl, dass es sehr spät ist. Zu spät.
Meine Mutter wird mich umbringen.
Ich will mich mit den Händen hochstemmen und aufrichten, doch meine Hände gehorchen mir nicht, und ich sinke kraftlos wieder in mich zusammen. Jede Faser meines Körpers schmerzt, und das Schwindelgefühl dreht mir den Magen um. So ist es immer, wenn ich im Traum falle, aber diesmal ist es tausendmal schlimmer. Ich bin völlig durcheinander. Auch das ist jedes Mal so, aber jetzt ist es schrecklicher als sonst. Ich fühle mich wie ausgehöhlt, als hätte das schreiende Etwas in meinem Inneren mich leer gefressen und nur eine Hülle ohne Inhalt zurückgelassen. In mir ist es dunkel, ich fühle mich wie ein ausgehöhlter Kürbis ohne Kerze. Mein Brustkorb ist wie zugeschnürt. Vielleicht ist es diesmal ja endgültig. Vielleicht hat mich jetzt unwiderruflich der Wahnsinn gepackt und hält mich so fest in seinen Klauen, dass ich ihm nie wieder entkommen kann. Vielleicht hat der gestörte Teil meiner Persönlichkeit schließlich den Kampf gewonnen und das Gesunde in mir besiegt. Und damit den Teil von mir zerstört, der sich ein besseres Leben vorstellen kann. Vielleicht bin ich jetzt völlig kaputt.
Ich spüre die Tränen auf meinen Wangen und rühre mich nicht mehr. Reglos bleibe ich liegen und atme den tröstlichen Geruch von Gras und Erde ein. Ich versuche, Verstand und Körper wieder in Einklang zu bringen. Es wird schon werden. Immerhin kann ich noch klar denken, mir Sorgen machen, ob ich Ärger mit meiner Mutter bekomme, und mich dafür schämen, wie die Sache mit Dylan gelaufen ist.
Zwar kann ich mich nicht daran erinnern, was ich ihm alles erzählt habe, aber wahrscheinlich habe ich mich schrecklich blamiert. Sicher hat er verdient, was ich ihm alles an den Kopf geworfen habe, trotzdem wünschte ich, ich hätte mich besser unter Kontrolle gehabt. Ich war urplötzlich betrunken, viel zu schnell. Im ersten Moment war alles bestens, und dann plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wurde mir schwindlig, und ich habe ihn nicht mehr verstanden. Das Entziffern seiner Worte fiel mir schwer. Es war, als müsste ich sie aus einer fremden Sprache übersetzen. Zu blöd . Warum war ich nicht vorsichtiger? Normalerweise reichen ein bis zwei Schlucke, um mich beschwipst zu machen. Ich hätte wissen müssen, dass es keine gute Idee war, sich eine ganze Flasche Wein zu teilen. Offensichtlich habe ich den Umgang mit Alkohol nicht im Griff.
Du hast dein Leben nicht im Griff.
Ich bin viel zu erschöpft, um Streitgespräche mit mir selbst zu führen, und schließe müde die Augen. Außerdem hat die Stimme in meinen Kopf ja recht. Ich habe mein Leben tatsächlich nicht im Griff. Ich habe ja nicht einmal meinen Körper im Griff. Hier liege ich auf der Erde, mit dem Gesicht im Dreck, meine Beine sind kalt und klamm, weil ich mir in die Hose gepinkelt habe, und ich kann noch nicht einmal aufstehen.
Doch. Ich kann. Ich muss! Es ist niemand hier, der mir helfen könnte. Dafür bin ich einerseits dankbar – wenigstens hat Dylan mich nicht in diesem Zustand gesehen! Andererseits bin ich enttäuscht – warum ist er mir nicht nachgegangen? Dabei hat er sich solche Mühe gegeben, so zu tun, als läge ihm etwas an mir. Zumindest lag ihm einiges daran, mich so lange am Leben zu halten, bis er seine Wette gewonnen hat.
Hätte er mich nicht nach Hause begleiten müssen, um sicherzugehen, dass ich wohlbehalten ankomme? Er muss doch gewusst haben, dass ich zu viel getrunken habe. Wenn man den Gerüchten glauben darf, die an der Schule über ihn kursieren, hat Dylan genug Erfahrung mit Alkohol und Drogen, um erkennen zu können, wann jemand sturzbetrunken ist.
Aber vielleicht wollte er sich ja um mich kümmern. Ich weiß noch, dass er mir nachgelaufen ist und meinen Namen gerufen hat, aber dann lässt mich mein Gedächtnis im Stich. Ich kann mich nicht erinnern, Los Olivos verlassen zu haben. Auch nicht, wie weit ich von zu Hause entfernt war, als ich zusammengebrochen bin. Ich weiß, dass ich in einem Weinberg sein muss, aber Weinberge gibt es viele in der Gegend. Ich könnte also überall sein. Hoffentlich ist die El Camino Road in der Nähe. Ich muss es unbedingt nach Hause schaffen,
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