Romeo für immer, Band 02
einen sanften Kuss auf die Wange haucht und mich im nächsten Moment mit ihrem Blick durchbohrt. Es gefällt mir, dass sie mir das Gefühl gibt, sie sei ein hilfloses, zerbrechliches kleines Ding, und mich im nächsten Moment zum Lachen bringt oder auch mit namenloser Furcht erfüllt.
»Eben hast du etwas anderes gesagt«, flüstert sie.
»Ich weiß.« Ich angle nach einer Serviette und überlege mir eine Antwort, während ich meine Finger säubere. Ich suche nach einer kleinen Lüge, aber alles, was mir in den Sinn kommt, ist die Wahrheit. »Ich bin so süchtig nach deinen Küssen, dass meine Lippen einfach machen, was sie wollen.«
»Du liebst mich also nicht?«
»Ich … ich weiß es nicht. Ich habe noch nie zuvor so empfunden.« Wir sehen uns an, und ich versuche einzuschätzen, ob ich mit meiner vorgetäuschten Verwirrtheit etwas von ihrem Vertrauen zurückgewinnen konnte. Sie mustert mich mit einer solchen Intensität, dass ich mich unter ihrem forschenden Blick winde wie ein Wurm. »Und du? Was ist mit dir?«, frage ich sie.
»Was mit mir ist?«, fragt sie argwöhnisch. Sie ist wieder genauso misstrauisch wie gestern Abend auf dem Spielplatz.
Verdammt! Ich befeuchte nervös meine Lippen und versuche zu lachen. Aber es will mir nicht gelingen. Ich versuche, meine Hilflosigkeit mit einem Schulterzucken zu überspielen. »Ach, egal. Vergiss es. Ist nicht so wichtig.« Ich bringe ein Lächeln zustande. »Ich wollte nur wissen, ob du Lust hast, am Freitag mit mir zum Schulball zu gehen.«
Jetzt ist sie es, die verwirrt blinzelt. »Du willst zum Abschlussball gehen?«
»Ich möchte mit dir hingehen«, korrigiere ich. »Hast du Lust?«
»Aber ich dachte, du … « Sie betrachtet ihre Hände. »Ich habe gehört, wie du dich während der Probe mit Jason verabredet hast. Wolltet ihr nicht gleich nach deinem Solo verschwinden, weil ihr noch irgendwo einen Auftritt habt?«
»Den sage ich ab. Also, wenn du … « Ich versuche ihre Miene zu deuten, finde aber keinen Hinweis darauf, ob ich auf der richtigen Fährte bin. Ich atme tief durch und bleibe am Ball, was soll ich auch sonst tun? »Ich würde den Auftritt sofort absagen. Vorausgesetzt, du könntest dich mit der Vorstellung anfreunden, dass ich dir den ganzen Abend auf den Füßen herumtrampele.«
»Das ist aber jetzt keine Carrie-Nummer, oder?«
»Was?« Ich bin verwirrt. Wer ist Carrie? Ich durchforste Dylans Erinnerungen, aber über eine Carrie finde ich nichts. Er war schon mit so vielen Mädchen zusammen, es ist gut möglich, dass er eine Carrie kennt und sich nicht an ihren Namen erinnert. Verdammt! Mir bleibt keine andere Wahl als zuzugeben, dass ich keine Ahnung habe. Ich schüttle hilflos den Kopf. »Ich kenne keine Carrie. Seid ihr miteinander befreundet?«
»Nein, sie ist … Du kennst Carrie nicht?«, fragt sie fassungslos. »Den Roman von Stephen King über das sonderbare Mädchen, die Außenseiterin, die von einem gut aussehenden Jungen zum Abschlussball eingeladen wird? In Wirklichkeit spielen ihre Mitschüler ihr aber einen bösen Streich und kippen auf dem Schulball einen Eimer Blut über ihr aus. Die Geschichte endet damit, dass sie ihre Mitschüler alle umbringt, und zwar nur durch die Kraft ihrer Gedanken.«
»Nein, die Geschichte kenne ich nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich ein Buch gelesen habe.« Ungefähr zweihundert Jahre. Damals löste sich mein Einfühlungsvermögen in Luft auf, und ich konnte nicht mehr nachvollziehen, warum die Charaktere so handelten, wie sie es taten. Es interessierte mich einfach nicht mehr, wie die Geschichten endeten. Ich hatte genug damit zu tun, Menschen für die Sache der Söldner zu gewinnen. Wenn ich jemanden dazu bekehrt hatte, seiner großen Liebe die Kehle durchzuschneiden, dann war ich mehr als zufrieden. Wie sehr habe ich es genossen, einmal nicht das bösartigste Wesen im Raum zu sein.
»Klingt interessant.« Ich schiebe meine Erinnerungen beiseite. Die Vergangenheit ist vergangen, es wäre Zeitverschwendung, weiter darüber nachzudenken.
»Es ist interessant. Die Geschichte ist zwar traurig, aber auch unheimlich spannend«, meint sie. »Ich habe die DVD zu Hause. Mom und ich sehen sie uns an Halloween immer an. Ich kann sie dir leihen, wenn du möchtest.«
»Lass sie uns jetzt gleich anschauen.« Ich stopfe unseren Müll in die Tortilla-Schachtel. »Wir haben ja noch etwas Zeit, bis deine Mutter von der Arbeit kommt.« Ich stehe auf, doch Ariel
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