Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Nichts. Dann fiel sein trüber Blick auf den Jungen und das Pferd. Er brauchte einen Moment, bis er verstand, was er da sah.
«Haltet den Dieb!», schrie er, und mit einem Mal erwachte die Nacht zum Leben.
Bennosuke zischte eine Verwünschung und schwang sich in den Sattel. Weitere Samurai strauchelten aus dem Wirtshaus, brüllten ihm Drohungen und einander Befehle zu. Bennosuke geriet in Panik, trieb das Pferd mit Faustschlägen an und rammte ihm seine knochigen Hacken in die Seiten. Das Tier schrie und galoppierte viel zu schnell in die Dunkelheit davon, wobei es seinen Reiter wie einen Sack Stroh hin und her warf.
Bennosuke konnte nicht erkennen, wohin sie ritten – er wusste schlicht nicht, ob die Schwärze vor seinen Augen die der Nacht war oder die seiner zugekniffenen Lider. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu ducken und festzuhalten. Er ließ die Zügel los und schlang die Arme um den Hals des Pferdes. Seine Füße wurden aus den Steigbügeln geschleudert, und bei jedem Schritt des Tiers hob sich sein Hintern eine Handbreit aus dem Sattel.
So unwürdig es auch war: Er schaffte es, sich festzuhalten, bis das Pferd schließlich unter der Anstrengung, einen Reiter in so ungewöhnlicher Haltung zu tragen, langsamer wurde. Bennosuke setzte sich wieder aufrecht in den Sattel und bemühte sich, das Pferd etwas kontrollierter anzutreiben. Doch stattdessen verlor das Tier alle Lust, sich weiterzubewegen. Es blieb wie angewurzelt stehen und verschnaufte, da konnte der Junge es treten und schlagen, wie er wollte.
Hinter ihnen erklang Hufgetrappel, und ohne es zu sehen, spürte Bennosuke, dass etwas die Straße herab direkt auf sie zuraste. Er erstarrte, sich der nahenden Gefahr bewusst, aber unfähig, sich zu bewegen. Der Galopplärm wurde immer lauter, und eine Sekunde vor dem Zusammenprall durchriss ein Fluch die Luft, als der andere Reiter erkannte, dass ihm etwas den Weg versperrte.
Doch zu spät. Das Ross des Samurai rammte Bennosukes von der Seite, man hörte Rippen und Sattelrahmen aufeinanderkrachen. Der Aufprall schlug dem Jungen die Luft aus der Lunge. Jeder einzelne seiner Knochen schien zu vibrieren. Dann geriet die ganze Welt ins Wanken, als sein Pferd seitwärts kippte. Er landete rücklings auf dem harten Erdboden, halb unter der Flanke des Pferdes eingequetscht.
Bei dem Sturz verlor er das Bewusstsein, spürte aber weiterhin vage etwas.
Das auf ihm lastende Gewicht des Pferds war erst da und dann fort, als sich das Tier mühsam wieder aufrichtete.
Bewegung. Er wurde an den Füßen gezogen, sein verdrehter Körper, immer noch im Pferdegeschirr verheddert, wurde ein Stück weit gezerrt.
Sein Kopf, der sich wie ein Stein anfühlte, hatte plötzlich wieder ein Gesicht.
Irgendwas berührte ihn, er wurde umgedreht.
Warmer Atem, der nach Sake stank.
Etwas Kaltes, Festes an seiner Kehle.
Eine Stimme, die, das verstand er, Wut oder Missfallen zum Ausdruck brachte.
Dann plötzlich: Licht.
Ein weiterer Reiter kam, ein Samurai mit einer Laterne in der Hand, und die Wiedergewinnung seines Sehvermögens brachte Bennosuke allmählich auch wieder zu Sinnen. Ihm wurde klar, dass ein Mann auf seiner Brust kniete, mit schmutzigem, zornverzerrtem Gesicht, und ihm etwas, vermutlich ein Schwert, an die Kehle hielt. Er lag so reglos da, wie er nur konnte.
«Idiot! Verdammter hirnverbrannter Bauernbastard!», knurrte ihn der Mann an. «Du stiehlst ein Pferd und kannst nicht mal reiten?»
«Halt!», befahl der Mann mit der Laterne. Die übrigen berittenen Samurai kamen nun ebenfalls heran, sie umkreisten Bennosuke kaum sichtbar am Rande des Laternenscheins wie Aale in einer Wassertonne.
«Ich hätte mir das Genick brechen können», knurrte der Kniende.
«Was erwartest du denn, wenn du blindlings in die Dunkelheit galoppierst?», erwiderte der Mann mit der Laterne. «Du hättest im Licht bleiben sollen. Aber egal. Dir ist nichts passiert, und du hast den Dieb gefasst. Gut gemacht.»
«Danke», sagte der Kniende und ließ sich davon ein wenig beschwichtigen. «Und was machen wir jetzt?»
«Auf Pferdediebstahl steht Kreuzigung», sagte der andere, worauf der Mann auf Bennosukes Brust gereizt aufseufzte.
«Ach, die Hinrichtungsstätte ist einen Tagesritt entfernt. Schlitzen wir ihm doch einfach die Gurgel auf und werfen ihn in irgendeinen Graben», sagte er, wandte dann zum ersten Mal den Blick von seinem Gefangenen ab und sah sich zu dem Mann mit der Laterne um.
«Kreuzigung ist die
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