Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
unterstand, über den er nichts wusste. Bescheidene Kost und Logis, glaubte er, würde er sich schon irgendwie verdienen können, während er abwartete, bis sich ihm ein besserer Racheplan offenbarte.
Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, wie verhasst herrenlose Samurai waren. Wenn die Leute die Schwerter an seiner Seite und seine zusehends zerschundenen Kleider sahen, spien sie vor ihm aus: Ein herrenloser Samurai war entweder in Ungnade gefallen oder hatte seinen Herrn im Stich gelassen, und mit einem Unruhestifter oder Unfähigen wollte niemand etwas zu tun haben. Man scheuchte ihn von Ort zu Ort. Waren die Leute freundlich, so boten sie ihm als Almosen noch eine Schale Reisgrütze an, damit er sich schnell wieder von dannen machte. Anderswo wurde er von angewidert dreinblickenden Samurai aus dem Ort geleitet.
Einige Male wagte er es, seine Schwerter im Wald zu verstecken, sich ein Tuch um den Kopf zu binden und sich als Junge von niederer Geburt auszugeben. Dann wartete er mit einem Pulk verdreckter Tagelöhner, der wie eine Ziegenherde zusammengepfercht wurde, auf Dienstherren, die Männer zum Graben, Steineschleppen oder, wenn der Wind zu schwach war oder der Fluss zu wenig Wasser führte, Drehen der Mühlräder suchten. Doch seine Größe, sein Hautausschlag, sein gebildeter Akzent oder schlicht der Umstand, dass niemand ihn kannte, ließen ihn hervorstechen, und während Dutzende bemitleidenswerte Kreaturen ausgewählt wurden und dankbar zur Arbeit davonschlurften, sagte man Bennosuke nur, er solle sich andernorts nach Beschäftigung umsehen.
Etwas Essbares wurde zu einer Rarität. Nach der Ernte im Herbst verschwand alles, was sich nicht in irgendwelchen Speichern oder den Tiefen des Meeres befand. Bennosuke saß auf dem Trockenen und bekam weder von den Früchten des einen noch des anderen etwas zu sehen. Er überlegte, auf Wildschwein- oder Rehjagd zu gehen – in Zeiten des Hungers durfte ja rotes Fleisch gegessen werden –, aber er besaß keinen Bogen und hätte auch nicht gewusst, wie er die Tiere aufspüren sollte.
Auch die Flüsse und Bäche waren ihm größtenteils versperrt, denn er hatte kein Netz, und die wenigen Stellen, die so flach waren, dass man ins Wasser waten und mit dem Speer Karpfen oder Lachs fischen konnte, waren längst von nahen Siedlungen in Beschlag genommen und wurden gegen Wilderer verteidigt. Hin und wieder entdeckte er eine abgeschiedene Stelle und machte sich dort auf die Jagd nach kleineren Fischen, die überaus flink waren, doch stundenlange Versuche erbrachten meist nicht mehr als ein oder zwei magere Tiere, kaum so lang wie sein Fuß und darüber hinaus hauptsächlich aus Gräten bestehend.
In dieser Hinsicht ähnelten sie ihm; sein Fleisch schrumpfte dahin, während er sich nur von dem ernährte, was ihm glückliche Zufälle in die Hände spielten, und oft vergingen Tage, ohne dass er eine richtige Mahlzeit zu sich nahm. Er begann, an Krämpfen zu leiden, die manchmal so stark wurden, dass er sich den Kimono aufriss und seinen Bauch unter den sich deutlich abzeichnenden Rippen anstarrte, davon überzeugt, er würde ein Eigenleben entwickeln. Seine Verdauung war ruiniert, aus seinem Darm drang nur noch Wasser, und als Toilette dienten ihm Mulden, die er eigenhändig in die Erde grub.
Das Schlimmste aber, was der Hunger mit sich brachte, war die Benommenheit. Das Gefühl der völligen Ausgelaugtheit wurde zu seinem ständigen Begleiter, und die Welt verschwamm vor seinen Augen. Manchmal erschienen ihm die Dinge wie ein Traum. Dann gewann er seine geistige Klarheit wieder und stellte fest, dass er sich an einem ganz anderen Ort befand als dem, an den er sich zuletzt erinnern konnte, oder dass er Selbstgespräche führte. Immer öfter sorgte er sich um seine geistige Gesundheit nicht minder als um seine körperliche.
Doch er hatte es überstanden, und drei Monate zuvor hatte man in jeder Stadt hölzerne Werbetafeln für das Reitertreffen angebracht, die alle von dem einarmigen Mann kündeten, der daran teilnehmen würde. Da wusste Bennosuke, dass dies der Wink des Schicksals war, auf den er gewartet hatte. Er konnte kaum glauben, dass sich Hayato in solche Gefahr begab, ungeachtet dessen, wie viele Männer ihn dabei beschützen würden.
In der Masse aus Hunderten Menschen und Pferden, in einem Gedränge, in dem Dutzende Strategien und Stoßrichtungen aufeinanderprallten, würde selbst der wachsamste Mann die mit Ruß geschwärzte Klinge eines verborgenen Dolchs
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