Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
geschieht, der seinem Stand Schande macht.»
Allein schon das Scheppern der Schwerter auf seiner Brust verhöhnte ihn, denn es führte ihm seine Ohnmacht vor, aber es waren diese Worte, die ihm wirklich zusetzten. Man prangerte ihn als Übeltäter an, obwohl er nur deshalb so abgerissen und halb verhungert war, weil er beschlossen hatte, kein Übeltäter zu sein. Das Pferd war das Erste, was er in all den Monaten zu stehlen versucht hatte.
Oh, wie groß war die Versuchung gewesen, seinem knurrenden Magen und den zitternden Händen nachzugeben. Es wäre so leicht gewesen, an einem abgelegenen Weg einem Händler aufzulauern und ihm Geld, Essen oder die Kleider, die er am Leib trug, abzunehmen. Auch in ein unbewachtes Haus hätte er einbrechen und sich dort bedienen können. Groß und stark, wie er war – zumindest anfangs noch –, mit Schwertern bewaffnet; wer hätte ihn daran hindern sollen?
Nur er sich selbst, und das hatte er getan. Er war in einer Mission unterwegs, einer heiligen Mission, und obwohl ihm Munisai gesagt hatte, sein Tod nach vollbrachter Tat würde ihn von allen Sünden und aller Schande reinwaschen, die er auf dem Wege dahin auf sich geladen hätte, wollte Bennosuke das nicht als Vorwand für unmoralisches Verhalten gebrauchen. Die Taten mochten ihm verziehen werden, aber das machte sie nicht ungeschehen. Er hätte damit Schmerz in der Welt hinterlassen, der anderen zugefügt worden wäre, und das durfte nicht sein.
Der legendäre Krieger Musashi Benkei war ja schließlich auch nicht berühmt für die Zahl der Männer, die in seinem letzten Gefecht von seiner Hand gefallen waren. Worüber die Geschichten in schauderhafter Ausführlichkeit bewundernd berichteten und worauf sich die bildlichen Darstellungen mit präzisen Pinselstrichen konzentrierten, waren die zahlreichen Pfeile, die er abbekommen hatte, bevor er fiel. Das war es, was einen Samurai, nein, einen Helden ausmachte: wie viel Schmerz und Leid man erdulden und dennoch triumphieren konnte.
Der qualvolle Hunger, die Nächte unter freiem Himmel und auf nackter Erde, die Blasen an den Füßen und die Benommenheit – das seien, hatte Bennosuke sich gesagt, nichts anderes als Pfeile, die langsam in ihn drangen.
Du bist Musashi
, hatte ihm eine Stimme in seinem Kopf zugeflüstert,
und das sind die Dinge, anhand derer man über dich urteilen wird, wenn es erst einmal vollbracht ist. Lange nach deinem Tod, wenn dieser Leib nur noch eine Erinnerung ist, werden sich die Menschen davon erzählen, und deine tugendhafte Entschlossenheit wird sie in Erstaunen versetzen
.
Doch jetzt war alles zunichte. Der Diebstahl des Pferds war eine Notwendigkeit gewesen, daher hatte er es versucht – und war daran gescheitert. Jetzt wurde er den Leuten hier nicht als Vorbild vorgeführt, sondern als Verkörperung der Schmach. Der Fußmarsch dauerte Stunden, und die ganze Zeit hörte er das angewiderte Gemurmel der Passanten, das Knallen der Peitsche und seinen eigenen schweren Atem.
Irgendwann vermochte er den Durchfall, der ebenso von seinem ausgemergelten Zustand wie von der Angst herrührte, nicht mehr zurückzuhalten, und der Kot rann ihm warm und feucht am Bein hinab. Keiner der Samurai bemerkte etwas. Dem Jungen brannten Tränen der Erniedrigung in den Augen: weil er so tief gesunken war, dass er sich in die Hose scheißen konnte, ohne dass es einen Unterschied machte, wie seine Mitmenschen ihn sahen – vor allem aber, als ihm nun klarwurde, wie vollkommen er versagt hatte. Er würde sterben, restlos entehrt, und Hayato würde weiterleben.
Eine Zeitlang war er geradezu froh über den Helm.
Irgendwann verfielen die Samurai in Schweigen; es war wohl niemand mehr da, dem man Bennosuke vorführen konnte. Sie drangen nun in Regionen abseits der zivilisierten Welt vor, beschritten Pfade, die niemand gern betrat, manche aber betreten mussten, da es ihre Pflicht war. Der menschliche Körper enthielt Organe, die Urin und Galle erzeugten, Dinge, die nötig, aber dennoch verderbt waren, und so verhielt es sich auch mit der Welt. Sie näherten sich nun einem der schmutzigen, verfluchten Orte, wo die Burakumin wohnten.
Bennosuke bekam es zusehends mit der Angst zu tun, die Härchen an seinen Armen stellten sich auf. Er wusste nicht genau, wohin sie unterwegs waren, denn diese Außenposten und Siedlungen waren verborgen und auf keiner Karte verzeichnet. Sie befanden sich in ausgetrockneten Flussbetten, in denen kein Reis wuchs, denn hätten sie sich in der
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