Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
eine geborene Samurai war, die mit Munisai einen Mann ihres Standes geheiratet, sich von ihrem sanften Herzen aber zur Heilkunst hingezogen gefühlt hatte. Dorinbo hatte sie ausgebildet, und später hatte sie sich um die Bauern des Dorfs gekümmert, hatte Knochenbrüche gerichtet, Wunden gesalbt und hin und wieder auch ein Kind entbunden.
Eines Nachts wurde sie in das Tal gerufen, das nun vor ihm lag, damals, als es noch mit Leben erfüllt war.
Dann bebte die Erde.
Ein Dach stürzte ein.
Eine Laterne fiel um.
Und das war es, plötzlich war sie fort. Bennosuke hatte in jener Nacht bei Dorinbo geschlafen, offenbar so tief, dass er von dem Beben nichts spürte. Ferne Schreie weckten ihn, verschlafen trat er in die Nacht hinaus. Dorinbo war schon draußen auf dem Hof und schulterte einen Beutel mit ärztlichem Gerät. Der Himmel glühte orangerot.
«Geh zurück ins Bett, Bennosuke», wies er ihn in ungewöhnlich strengem Ton an. «Das ist gefährlich.»
Der Junge gehorchte, und so kam es, dass er in einem dunklen Zimmer gelegen hatte, während seine Mutter woanders verbrannt war. Er wünschte, er hätte sie gekannt. Eine wunderbare Frau musste sie gewesen sein, denn sein Vater hatte sie so geliebt, dass ihn, als er am Morgen von ihrem Schicksal erfuhr, die Trauer übermannte und er das Dorf verließ, weil er es nicht mehr ertrug, den Ort zu sehen, an dem sie gemeinsam gelebt hatten.
Jahrelang hatte der kleine Bennosuke nicht einmal gewagt, die Ruinen anzusehen, doch schließlich brachte er den Mut dazu auf. Mittlerweile kam er öfter hierher. Es war ein friedlicher Ort, fern von den angewiderten Blicken der Bauern. Hier konnte er der Schmach entfliehen und in Ruhe nachdenken. Er ging jedoch nie hinab, schaute immer nur, so wie jetzt, und ballte die Fäuste.
Obwohl er wusste, wie dumm es war, wünschte er sich, der Geist seiner Mutter würde ihm erscheinen und ihm raten, was er Dorinbo sagen sollte. Solange er zurückdenken konnte, war Bennosuke jeden Morgen zum Tempel gegangen, um dem Mönch bei ärztlichen oder geistlichen Verrichtungen zu helfen und sich im Lesen, Rechnen und anderen Fertigkeiten unterrichten zu lassen. Nie aber hatte er darin seine Zukunft gesehen. Er war einfach nur zum Tempel gegangen, weil er nichts anderes kannte.
Sein Onkel sah das offenbar anders. Wie sollte er ihm etwas abschlagen, ohne ihn zu kränken? Er würde eine Ablehnung seines Angebots sicher persönlich nehmen. Was sollte er sagen, wie sich erklären? Diese Fragen plagten den Jungen.
Die Ruinen aber waren weiter nichts als Ruinen, die Welt der Sterblichen und das Reich der Geister so getrennt wie eh und je. Hier gab es keine Antworten, da konnte er noch so lange starren.
Schließlich ging er wieder, immer noch hin- und hergerissen, immer noch allein. Es war Zeit für den Fechtunterricht.
Zumindest die Zeit im Dojo genoss Bennosuke. Jeden Nachmittag kam er zum Üben in die Halle, so anstrengend es auch war, denn hier konnte er seine Sorgen vergessen. Hier gab es nichts, was sich nicht durch einen Schwerthieb lösen ließ, und in dieser Schlichtheit lag eine tiefe Befriedigung für ihn.
Stunden vergingen wie im Flug, während er sich mit vollkommener Konzentration den Formen und Mustern des Kampfes widmete. Immer wieder übte er die Manöver, versuchte sich die seltsame Balance und die unnatürlichen Bewegungen in Fleisch und Blut übergehen zu lassen, schulte Muskeln, die sich erst im Erwachsenenalter voll entwickeln würden. Wenn er focht, ging er ganz darin auf, und wenn sein Holzschwert die Lücke fand und Helm, Handschuh oder Harnisch traf, erklang sein Siegesschrei aus voller Kehle.
Einige rauschhafte Sekunden lang empfand er dann die seltene Befriedigung, etwas geleistet zu haben. Das waren die Momente, in denen er sich zu glauben gestattete, eines Tages doch ein Samurai zu werden.
Doch nicht alle nahmen den Unterricht so ernst wie er. Auch Jungen aus den umliegenden Dörfern kamen ins Dojo, manchmal nur eine Handvoll, manchmal mehr als ein Dutzend. Heute waren es viele, was zwei Jungen zu der Annahme verleitete, unbemerkt bleiben zu können. Sie kicherten und schlugen einander nach den Waden, der eine mit einem Holzschwert, der andere mit einer Stange, die als Übungsspeer diente. Dabei wahrten sie nicht einmal mehr den Anschein von Disziplin. Tasumi, der Meister des Dojo, stürmte mit einem Wutschrei zu ihnen.
«Glaubt ihr etwa, ihr könnt hier herumalbern?», fauchte der Samurai die beiden Jungen an, die nun
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