Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
gebrauchend, der an einen langsam zufrierenden Fluss im Winter gemahnte, «dass der Sohn des höchst ehrenwerten Munisai Shinmen den Sohn des höchst ehrenwerten Fürsten Nakata körperlich verstümmelt haben soll. Wenn diese Behauptung auch nur ein Körnchen Wahrheit enthielte, wäre das eine höchst beunruhigende und unwillkommene Entwicklung innerhalb der Reihen der Verbündeten des Ukita-Clans.»
«Es entspricht vollkommen der Wahrheit, Hoheit», sagte Fürst Nakata und ergriff damit die Initiative. «Wer der Verheerungen, die der Sohn des Nakata erlitten hat, mit eigenen Augen ansichtig würde, könnte sich der Tränen zweifellos nicht enthalten.»
Langsam richtete Ukita den Blick auf Hayato. Der junge Fürst schien tatsächlich kaum anwesend zu sein. Er wirkte krank, war abgezehrt und verschwitzt, und seinen abwesend blickenden, eingesunkenen Augen war nur selten so etwas wie Klarheit anzumerken. Der Stumpf seines rechten Arms war unter der Kleidung verborgen, bereitete ihm aber offensichtlich immer noch Schmerzen.
«Die Augen des Ukita-Clans bleiben vorläufig trocken», verkündete der Fürst. Er wandte den Blick von Hayato ab und setzte wieder seine neutrale Miene auf.
«Es wird darum ersucht, der höchst ehrenwerte Ukita-Clan möge in Erwägung ziehen, dass der Sohn des Nakata dauerhaft darunter leiden könnte», fuhr Nakata vorsichtig fort.
«Der Sohn leidet gegenwärtig körperliche Schmerzen», erwiderte Ukita. «Diese aber werden mit der Zeit vergehen, und es bleibt eine Tatsache, dass vor dem Sohn des höchst ehrenwerten Fürsten Nakata viele Männer, die Gliedmaßen verloren, dennoch ein langes, erfülltes Leben führten.»
«Das Leben ist nicht die einzige Sorge: Ein unvollständiger Körper gilt in den Augen derer, die im Jenseits darüber zu richten haben, als entstellt. Wenn den Sohn des Nakata dereinst der Tod ereilt – mögen noch Jahrzehnte bis dahin vergehen –, fällt er aufgrund dieser Verstümmelung der Verdammnis anheim.»
«Dann sei das Schicksal gelobt, das den Sohn des Nakata in eine einflussreiche Stellung hineingebar, die es ihm nämlich gestattet, die schwerwiegendsten Sünden wie auch die tugendhaftesten Taten zu vollbringen. Mit eigenen Händen – oder nun eben mit einer Hand … Seelenwanderung und Karma zählen nicht zu den Belangen, denen der Ukita-Clan sich zu widmen hat; ihm ist es ausschließlich um die Wiederherstellung der Freundschaftlichkeit hienieden zu tun.»
Der Saal war hinter dem Fürsten mit einem großen Wandgemälde geschmückt, das eine Naturlandschaft zeigte. Himmel und Erde waren in zwei verschiedenen Blattgoldtönen ausgeführt, Astwerk und Ranken der Bäume hingegen in Schwarz, was sie vor dem schimmernden Hintergrund wie seltsame Leerstellen erscheinen ließ. Ukitas Kimono war exakt in dem gleichen Schwarz gehalten wie die Bäume, und so wirkte es, als würde er in dem Wandgemälde aufgehen und dadurch vergrößert werden. Munisai fragte sich, ob das Zufall war oder ein subtiler Trick, der Besucher verwirren sollte.
Nakata zog einen Fächer hervor und ließ ihn mit entschiedener Geste aufschnappen. Dann tat er, als fächerte er sich Luft zu, und versuchte im Schutz des Fächers ganz ungeniert, Shinmens Blick zu erhaschen. Shinmen aber, der starr vor Unbehagen und kerzengerade dasaß, ging nicht darauf ein.
In Munisais Brust wuchs die Hoffnung ein wenig.
«Der Ukita-Clan wird sodann ersucht, nicht die Folgen des Zwischenfalls in Betracht zu ziehen», sagte Nakata und gab seine Blickversuche vorerst auf, «sondern vielmehr den Akt selbst. Ein Samurai von niedriger Geburt – bei allem Respekt vor dem höchst ehrenwerten Munisai Shinmen – hat einen Fürsten angegriffen. Das ist Hochverrat und ein Vergehen wider die Gesetze der Natur. Wollte man dies bestreiten, so könnte man auch die Mauern der Burg bestreiten, in welcher meine geschätzte Zuhörerschaft weilt.»
«Wenn die Zwischenbemerkung gestattet ist: Auch in den Adern des Munisai Shinmen fließt fürstliches Blut», wandte Munisai ein, wobei er den Kopf demütig gesenkt hielt. «Es gilt zu berücksichtigen, dass er zwar weder über eine Burg noch über ein stehendes Heer verfügt und außerdem einem anderen Mann dient, sich seine Abstammung aber ununterbrochen bis zum höchst ehrenwerten Fujiwara-Clan zurückverfolgen lässt. Der Junge ist daher also keineswegs ein Samurai von niedriger Geburt.»
Munisai sprach die Wahrheit. Er besaß schriftliche Belege dafür, dass sich sein Stammbaum
Weitere Kostenlose Bücher