Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
sein Kinn und zwang den Jungen, ihn anzusehen. Er sah sein Spiegelbild in Bennosukes geweiteten Augen. Seine hingegen waren kaum mehr als wütend zugekniffene Schlitze.
«Willst du den Rest deines Lebens schniefend Gebete aufsagen? Oder bist du tatsächlich, wie du behauptest, ein Samurai?»
«Ein Samurai.»
«Dann musst du die Heiligkeit der Vergeltung wahren. Es ist ganz einfach. Die Nakata sind deine Feinde. Sie müssen sterben. Nimm mir das Schwert aus der Hand, wenn ich tot bin. Lebe wie ein Hund. Tu, was du tun musst, erdulde jede Schmach und Demütigung, die dir aufgeladen wird, gib dein ganzes Leben dafür hin – nur sorge dafür, dass Hayato Nakata stirbt. Hast du das verstanden?»
«Ja», antwortete Bennosuke.
«Das ist kein kleines Versprechen, Junge. Es wird dein Leben prägen, das Schicksal deiner Seele bestimmen. Also sage mir: Was bist du?»
«Ein Samurai.»
«Was wirst du heilig halten?»
«Die Vergeltung.»
«Gut», sagte Munisai und ließ den Jungen los.
«Aber warum … Warum musst du sterben?», fragte Bennosuke nach kurzem Schweigen. «Warum kannst du nicht mit mir gehen, und wir rächen uns gemeinsam?»
«Ich bin nur dein Lehrer», sagte Munisai, und ein grimmiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. «Und du bist kein Schwächling und kein Idiot. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Und als ich sagte, dass du dein Leben hingeben sollst, habe ich das auch so gemeint, denn dein Tod wird das Einzige sein, das dich rehabilitiert und alle Schande von dir nimmt – Tod entweder von eigener Hand oder von ihrer.»
Er streckte, immer noch lächelnd, die Hand aus, um sein Langschwert wieder entgegenzunehmen. Nur mühsam konnte er sie ruhig halten, was ihn erstaunte. Bennosuke sah noch einmal unsicher auf die Waffe, händigte sie dann aus, und Munisai steckte sich das Schwert samt Scheide in die Schärpe, die er um die Hüften trug.
«Das erscheint dir jetzt wahrscheinlich als eine große Bürde, die dir aufgeladen ist», sagte Munisai. «Aber jetzt siehst du allmählich, wie die Welt ist: Bauern bestellen die Felder und leben weiter. Künstler unterhalten uns und leben weiter. Händler verdienen Geld und leben weiter. Samurai dienen und kämpfen – und dann sterben sie. Nur der Name des Samurai lebt weiter. Allerdings wird uns die große Gabe zuteil, dass wir uns die Geschichten, die man sich dereinst über uns erzählen wird, selbst aussuchen können.»
«Ich …», begann Bennosuke. Sein Gesicht war ein Bild der Verwirrung.
«Sieh heute Nachmittag zu. Du wirst merken, dass ein Seppuku ein schöneres Vermächtnis darstellt als alles, was man in Stein meißeln könnte. Du wirst sehen, wie die Männer von mir sprechen werden, wenn es vollbracht ist, und dann wirst du es verstehen.»
«Aber …»
«Du darfst dich nicht einmischen, Bennosuke», sagte Munisai, der im Blick des Jungen eine Veränderung bemerkte. «Versprich mir: Du wirst nur zusehen und daraus lernen.»
«Jawohl, Herr.»
«Gut.»
Auf dem Kamm auf der anderen Seite des Tals tauchte eine große Sänfte auf. Sie war burgunderrot und schillerte pfauenfederartig. Um sie die gewundenen Wege zwischen den Reisfeldern hinabzutragen, war sie viel zu breit, und daher begannen die zwei Dutzend Träger mit dem Ritual des Absetzens.
Munisais Zeit mit Bennosuke war zu Ende. Er musste nun hingehen und sich präsentieren, und dann musste er sich auf seinen Tod vorbereiten. Es war alles so flüchtig, so nichtig – dieser Nachmittag, die vergangenen dreizehn Jahre. Welchen Unterschied machten schon diese letzten Sekunden? Einen großen, das wusste er. Er sah den Jungen an.
«Bennosuke», sagte er, und der Junge erwiderte seinen Blick. «Du bist ein guter Sohn.»
Das war nicht genug, aber alles, was er zu sagen wusste.
Fürst Shinmen erwartete ihn auf halber Höhe des Hangs. Hinter Shinmen wurden die vielen Männer, die Nakata eingeladen hatte, zu ihren Plätzen geleitet. Munisai war nicht erstaunt über ihre große Anzahl. Die Nakata brauchten Prunk und Prahlerei wie die Luft zum Atmen, und welch bessere Gelegenheit gab es dazu als das Ende eines Gegners?
Munisai freute sich sogar darüber. Wenn viele Augen zusahen, würden viele Münder Zeugnis ablegen von seinem tadellos vollzogenen Tod.
Sie plauderten ein Weilchen über Nichtigkeiten. Ehe Munisai sich entschuldigte, überreichte Shinmen ihm ein kleines Fässchen. Es war feucht und roch nach Meerwasser. Darin lagen vier frische Austern, noch in der Schale, eine
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