Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
die leichtere Seite davon kennengelernt: das Töten. Jetzt wird es Zeit, dass du auch die schwierigere Seite kennenlernst. Die bessere Seite. Die Seite, die uns zu dem macht, was wir sind.»
«Nein», flüsterte Bennosuke, das Gesicht immer noch verborgen.
«Der Tod ist gar nichts, Bennosuke. Macht etwa eine Schlange ein großes Gezeter, bevor sie ihre Haut abstreift? Meine Seele wird diesen Körper verlassen und dann …» Als etwas Höheres wiedergeboren werden, wollte er sagen, doch die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. «Meine Seele wird ihren Weg gehen, wohin auch immer. Und ansonsten dreht sich die Erde weiter.»
«Wann?», brachte der Junge hervor.
«Heute Nachmittag.»
Bennosuke schrie auf vor Wut und Qual und ging ein Stück von ihm fort. Dort hockte er sich wieder hin und blickte in Richtung Meer. Munisai ließ ihn gewähren.
Einige Zeit verging, dann riss Trommelklang sie aus ihrer Kontemplation. Sie sahen sich um. Die ersten Reiter nahten. Sie trugen burgunderrote Banner. Es waren die Vorboten einer Prozession, die sich dahinter fast eine Meile lang hinzog, in nach Rang gestaffelten Abteilungen. Die Ankunft Nakatas und Shinmens in Miyamoto.
Der Junge erhob sich und stellte sich an Munisais Seite. Schweigend sahen sie zu, wie die Reiter sich langsam dem Dojo näherten, wo die Bauern besorgt zusammenliefen. Die Trommelschläge wurden lauter.
Munisai war einen Moment lang bedrückt. Er hatte gehofft, noch mehr Zeit mit dem Jungen verbringen zu können. Andererseits hatte er ja bereits acht Jahre vergeudet, nicht wahr? Das jetzt zu bedauern wäre unsinnig. Eine letzte Sache gab es noch, die er ihm erklären musste. Er zwang sich, es auszusprechen.
«Ich brauche mein Schwert zurück», sagte er.
«Warum das?»
«Auch du musst ein Opfer bringen. Du musst ein Mönch werden», sagte Munisai, immer noch mit dem Blick ins Tal. «Das wurde mit Ukita vereinbart.»
«Aber … Nein. Ich bin ein Samurai.»
«Das Schwert, Bennosuke.»
«Ich bin ein Samurai», beharrte der Junge.
Munisai sah ihn an, wollte es ihm erklären. Er hatte erwartet, dass der Junge wütend sein würde – so kurz nachdem er zum Mann geworden war, musste es ihm wie eine Kastration erscheinen. Er hatte sich die nötigen Argumente zurechtgelegt, wie auch schon dafür, dass er ihm von seinem baldigen Seppuku erzählen musste. Die Wut abzuwehren, darauf war er gefasst, auf Trotz und Zorn war er vorbereitet.
Doch stattdessen liefen dem Jungen stumme Tränen übers Gesicht.
Warum weint er um mich – einen Mörder?
Bennosuke war ganz still, schluchzte nicht einmal leise. Die Tränen mussten einfach nur raus. Munisais Gesichtszüge verhärteten sich. Er wollte, dass der Junge wütend wurde, denn damit wusste er umzugehen. Bennosuke aber wischte sich nur beschämt mit dem Ärmel über die Augen. Munisai stieß ihn leicht, doch er reagierte nicht.
«Sieh dich an: Ich habe dir eine großartige Gelegenheit gegeben, dich zu beweisen, und was machst du? Du weinst. Ich will dir mal sagen, was Vergeltung ist. Götter sind eitel und launenhaft, die Vergeltung aber ist eine ehrwürdige Errungenschaft der Menschen. Sie ist ebenso natürlich wie das Atmen und so alt wie die Zeit, und sie geht über alles – selbst über die Pflicht gegenüber deinem Herrn. Das ist so, weil sie selbst eine Pflicht ist, eine heilige moralische Pflicht, und in ihrem Namen kann alles verziehen werden – solange du nur bereit bist, alles für sie aufzugeben. Das heißt es, ein Samurai zu sein. Hast du das verstanden?
Deine Mutter hat es begriffen: Yoshiko wusste, was es heißt, ein Samurai zu sein. Ich habe ihr Unrecht getan und wurde so zu ihrem Feind. Und statt zu jammern und zu weinen, hat sie sich, da sie eine Samurai war, auf ihre Rache konzentriert. Sie hat sich erniedrigt und gedemütigt und große Schande auf sich genommen, nur um mich ins Verderben zu reißen. Und das ist ihr gelungen. Selbst ich … egal, was ich getan habe … Selbst ich, derjenige, an dem sie sich gerächt hat, vermag die Reinheit dessen anzuerkennen. Sie war eine gute Frau, und du kannst stolz sein, dass du ihr Sohn bist.
Jetzt sage mir: Fließt ihr Blut auch in deinen Adern? Du bist ein Kind, das zur Vergeltung geboren wurde. Wirst du dich dessen würdig erweisen, was dich hervorgebracht hat?»
Bennosuke erwiderte nichts.
Er hatte sich die Augen getrocknet, aber sein Gesicht, weiter zu Boden gewandt, war immer noch gerötet. Munisai knurrte, stieß ihn noch einmal, ergriff
Weitere Kostenlose Bücher