Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
»selbständige direkte Aktion der Masse« 150 abgestimmt werden. Zwischen Partei und Massen dürfe keine Scheidewand aufgerichtet werden.
Rosa Luxemburg war nicht, wie ihr vielfach nachgesagt wird, gegen Zentralismus im Parteiaufbau. Lenins Organisationsplan ging
ihr aber entschieden zu weit. Ein solcher »Ultrazentralismus« sei von »sterilem Nachtwächtergeist« getragen, werde zu einem
bürokratischen Zentralismus entarten und kein lebendig pulsierendes Parteileben zulassen. 151 Da sie verhindern wollte, daß die Mitglieder gehorsame Werkzeuge eines Zentralkomitees werden, 152 polemisierte sie gegen eine blinde »Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter
eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet«, ebenso wie gegen die schroffe »Abgrenzung des organisierten
Kerns der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu«. 153
Es sei vielmehr nach einer wirkungsvollen Verbindung zentraler, föderativer und autonomer Prinzipien bei der Entwicklung von
selbständiger Willensbildung und Tätigkeit gleichgesinnter aufgeklärter und urteilsfähiger Menschen zu suchen. Auch Rosa Luxemburg
sah die Notwendigkeit, das Zusammenwirken der einzelnen Parteiglieder zentral zu koordinieren. Doch absolute Machtbefugnisse
müßten von vornherein ausgeschlossen sein. Selbst unter ungünstigen Bedingungen dürfe Mehrheitswillen nicht durch Alleinherrschaft
einer allmächtigen Zentralgewalt reglementiert werden. Man hüte sich vor einem »Verschwörerkomitee im Namen eines nicht existierenden
›Volkswillens‹« 154 . Der Zusammenhalt der Partei müsse auf freiwilliger Selbstdisziplin beruhen, die sich grundsätzlich von der eingepeitschten
»Disziplin« der Fabrik, der Kaserne und der Bürokratie zu unterscheiden habe.
Es war eine von Rosa Luxemburg stets verfochtene Überzeugung, |201| daß sich sowohl der Aufbau einer Partei als auch ihre Kampftaktik aus den konkreten Gegebenheiten entwickeln müßten und nicht
theoretisch konstruiert werden dürften. Eine den Mitgliedern eingedrillte, im voraus detailliert festgesetzte Kampftaktik
werde daran scheitern, daß sich die Einflußsphären der Sozialdemokratie ständig ändern. Im Unterschied zu Lenins Vorstellungen
von einer relativ geschlossenen, avantgardistischen Partei von Berufsrevolutionären, einer Kaderpartei, setzte sich Rosa Luxemburg
für eine demokratisch strukturierte und arbeitende Massenpartei ein.
Ein anderer Schwerpunkt im Parteistreit mit Lenin war das Problem des Opportunismus. Woher kam er, in welcher Form trat er
auf, und wie konnte man sich davor schützen? Rosa Luxemburg kritisierte Lenins einseitige Konzentration auf die Intellektuellen
und die bürgerlichen Einflüsse aus nichtproletarischen Kreisen auf die Partei. Sie selbst plädierte für eine umfassende Analyse
der historischen Bedingungen und der speziellen sozialen, ideellen wie organisationspolitischen Ursachen für das Entstehen
von Opportunismus. Schließlich entspringe er nicht selten der Parteientwicklung selbst. Ihrer Erfahrung nach könnten opportunistische
Verirrungen nie generell von vornherein verhütet werden, schon gar nicht vorrangig bzw. ausschließlich durch das Statut. 155
Lenins Vorschläge sahen vor, die Partei durch eine über das Statut reglementierte Disziplin vor opportunistischen Protagonisten
und Einflüssen abzuschirmen. Seine Kontrahentin hingegen legte das Schwergewicht auf streitbare demokratische Meinungsbildung
und freiwillige Selbstdisziplin. Eine kräftige, geschulte proletarische Kerntruppe, die sich als fähig erweist, initiativ
und mit demokratischen Methoden für die Politik der Partei den Ton anzugeben, sei die entscheidende Voraussetzung dafür, daß
sich der Opportunismus nicht ausbreite. Wenn diese gegeben ist, dann könne auch ein entsprechend ausgestattetes Statut wirksam
werden. Nur durch Verordnungen eine Ausgrenzung von Opportunisten erreichen zu können, hielt sie für einen Trugschluß. Opportunismus
in Organisationsfragen sei durch das Prinzip der Prinzipienlosigkeit gekennzeichnet, 156 das sich kaum durch Statutenparagraphen bekämpfen ließe.
Rosa Luxemburg formulierte ihr Parteiverständnis prägnant. |202| Ein Kernsatz am Ende des Aufsatzes lautete: »Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich
unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten
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