Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
den Überwachungsbehörden nicht verborgen geblieben war. Im Brief vom 5. Februar 1906 an Karl und Luise Kautsky
schrieb sie von einer in den nächsten Tagen fälligen Entscheidung, »ob ich für kurze Zeit von hier nach Petersburg reise oder
aber erst noch für zwei Monate ad penates [nach Hause] – zu Euch« 66 . Leo Jogiches sollte sie erst im Frühjahr 1907 wiedersehen.
Also seid guten Mutes und pfeift auf alles
Am 13. März 1906 erhielten die Kautskys in Berlin den ersten Brief, den Rosa Luxemburg nach ihrer Verhaftung geschrieben hatte.
»Meine Allerliebsten! Am Sonntag, dem 4., abends hat mich das Schicksal ereilt: Ich bin verhaftet worden. […] Hoffentlich
werdet Ihr Euch nicht zu sehr die Sache zu Herzen nehmen. Es lebe die Re…! mit allem, was sie bringt. Gewissermaßen ist es
mir sogar lieber, hier zu sitzen, als … mit Peus [Heinrich, sozialdemokratischer Reichs- und Landtagsabgeordneter mit sozialreformerischen
Ansichten] zu diskutieren. Man fand mich in ziemlich unbequemer Lage, aber Schwamm darüber. Hier sitze ich im Rathaus, wo
›Politische‹, Gemeine und Geisteskranke zusammengepfercht sind. Meine Zelle, die ein Kleinod in dieser Garnitur ist (eine
gewöhnliche Einzelzelle für eine Person in normalen Zeiten), enthält vierzehn Gäste, zum Glück lauter Politische. Tür an Tür
mit uns noch zwei große Doppelzellen, in jeder ca. dreißig Personen, alle durcheinander. Dies sind schon, wie man mir erzählt,
paradiesische Zustände; früher saßen sechzig zusammen in einer Zelle und schliefen schichtweise je paar Stunden in der Nacht,
während die anderen ›spazierten‹. Jetzt schlafen wir alle wie die Könige auf Bretterlagern, querüber, nebeneinander wie Heringe,
und es geht ganz gut […]. Spaziergänge im Hof kennt man hier überhaupt nicht, dafür sind die Zellen tagsüber offen, und man
darf den ganzen Tag im Korridor spazieren, um sich unter den Prostituierten zu tummeln, ihre schönen Liedchen und Sprüche
zu hören und die Düfte aus dem gleichfalls breit offenen 00 zu genießen. Dies alles jedoch nur zur Charakteristik der Verhältnisse,
nicht meiner Stimmung, die wie immer vorzüglich |243| ist. Vorläufig bin ich verschleiert, doch wird’s wohl nicht lange halten, man glaubt mir nicht. Die Sache im ganzen ist ernst,
doch leben wir ja in bewegten Zeiten, wo ›alles, was besteht, wert ist, zugrunde zu gehen‹, daher glaube ich überhaupt an
keine langfristigen Wechsel und Obligationen. Also seid guten Mutes und pfeift auf alles.« 67
Weil sie wußte, daß sie nicht so bald freikommen würde, bat sie die Freunde, dringende Angelegenheiten zu regeln: ihre Miete
und Druckkosten zu bezahlen, Gelder für die SDKPiL zu verwahren; Karl Kautsky möge einstweilen die polnische Partei beim Internationalen
Sozialistischen Büro vertreten. Solange sie nicht identifiziert sei, solle die Verhaftung in der Presse verschwiegen werden.
»Dann aber […] macht Lärm, damit die Leutchen hier etwas Schreck kriegen.« 68 Dennoch informierte der »Vorwärts« vom 15. März über ihre Festnahme. Sowohl die russische Geheimpolizei als auch konservative
Zeitungen wie die Berliner »Post« griffen die Meldung auf und verketzerten Rosa Luxemburg. »Bei dem Verhör erklärte die Matschke
kategorisch«, hieß es, »daß dies ihr wahrer Name sei, aber nachdem man durch Veranstaltung einer Haussuchung bei der im Hause
Nr. 9 an der Selnaja wohnhaften Hannah Luxemburg einer Photographie habhaft wurde, auf der Hannah Luxemburg eigenhändig vermerkt
hatte, daß diese Photographie ihre Schwester Rosa Luxemburg vorstellt, und nachdem die in das Lokal der Geheimpolizei hinzitierte
Hannah Luxemburg in Gegenwart von Zeugen aussagte, daß die Matschke ihre Schwester sei, war die letztere schließlich gezwungen,
ihren wahren Namen zu nennen, was denn auch zu Protokoll genommen wurde.« 69 Ab dem zweiten Verhör am 11. April wurde sie als Rosa Luxemburg vernommen. 70
Da polnische Gefährten eine Verurteilung zu langjähriger Zwangsarbeit befürchteten, unternahmen sie sofort alles, um eine
Flucht Rosa Luxemburgs zu organisieren. Nachdem Jakub Hanecki sein Vorgehen mit Feliks Dzierżyński abgestimmt hatte, arrangierte
er mit Duldung des Aufsichtspersonals, das vor der Revolution Angst hatte, bereits am 5. März nachts mit Rosa Luxemburg ein
illegales Treffen im Rathaus. 71
Noch im März wurde Rosa Luxemburg ins Frauengefängnis Pawiak in Warschau,
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