Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
schien es höchste Zeit, offen die demokratische
Republik als Ziel demokratischer Massenbewegungen zu proklamieren. »Die Losung der Republik ist also in Deutschland heute
unendlich mehr als der Ausdruck eines schönen Traumes vom demokratischen ›Volksstaat‹ oder eines in den Wolken schwebenden
politischen Doktrinarismus, sie ist ein praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Weltpolitik,
Junkerherrschaft, Verpreußung |348| Deutschlands, sie ist nur eine Konsequenz und drastische Zusammenfassung unseres täglichen Kampfes gegen alle diese Teilerscheinungen
der herrschenden Reaktion.« 56
Ihr kühner Vorstoß rief in der Partei Ängste, Zaudern und Widerstand hervor. Deutsche Sozialdemokraten sprachen und schrieben
über ihre antimonarchistische Haltung als Ausdruck demokratisch-republikanischer Gesinnung nur selten offen. Majestätsbeleidigungsprozesse
gab es ohnehin genug. Infolge dieser taktischen Rücksicht auf die drohende Reaktion im deutschen Kaiserreich war – wie von
Friedrich Engels in seiner Kritik am Erfurter Programm befürchtet – die Forderung nach der demokratischen Republik in der
Theorie und in der Praxis allmählich vernachlässigt worden.
Rosa Luxemburg berief sich auf die im Erfurter Programm klar fixierte Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei, den Kampf der
Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen. Sie betrachtete
wie Marx und Engels die Republik als Etappenziel, in der Perspektive könne sie sogar eine Form der Diktatur des Proletariats
darstellen. Eine demokratische Republik zu erkämpfen sei Aufgabe der Arbeiterklasse, nachdem diese Aufgabe von der Bourgeoisie
weder in der Revolution noch bei der Reichsgründung gelöst worden war.
In der Begründung bezog sich Rosa Luxemburg auf das »Manifest der Kommunistischen Partei«, die »Forderungen der Kommunistischen
Partei Deutschlands«, auf »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, die »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei«,
auf »Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891« und »Die Klassenkämpfe in Frankreich« (mit Engels’ Einleitung
von 1895). Vor allem mit Friedrich Engels’ Vermächtnis identifizierte sie sich und warf Kautsky vor, er lege es einseitig
aus. Es entspann sich zwischen beiden Theoretikern ein regelrechtes Zitaten- und Interpretationsscharmützel.
Rosa Luxemburg hatte über diese Fragen seit einem Jahrzehnt in der internationalen Arbeiterbewegung mitdiskutiert: Zu Beginn
des Jahrhunderts, in der Debatte um den Millerandismus, war sie hauptsächlich auf die Unterschiede zwischen Republik und Monarchie
eingegangen; 1904, in der Auseinandersetzung |349| um die Dresdener Resolution gegen den Revisionismus, schrieb sie vor allem über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Parlamentarismus;
1910 betrachtete sie die Losung der demokratischen Republik als besonders geeignet, die Aktionen der Sozialdemokraten in der
Wahlrechtsbewegung klarer zu orientieren.
Für den Kampf um Demokratie in bürgerlich-liberalen und kleinbürgerlich-demokratischen Kreisen Bundesgenossen zu suchen und
mit ihnen in Kontakt zu kommen, erwog sie nicht. Karl Liebknecht dagegen sah, daß die Wahlrechtsbewegung früher oder später
versanden mußte, wenn es nicht gelänge, die Taktik der Partei zu erweitern und auch im Mittelstand zu arbeiten. Er wiederum
ging nicht so weit, die Losung der demokratischen Republik direkt zur Forderung zu erheben, obwohl seine detaillierten Vorschläge,
die er auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Preußens in Berlin Anfang Januar 1910 zur Reform der preußischen
Verwaltung unterbreitet hatte, auf die Beseitigung der Preußenmonarchie als Hort der Reaktion in Deutschland abzielten. 57 Noch arbeiteten beide nicht direkt zusammen.
»Die Forderungen der politischen Demokratie, der Gleichberechtigung«, schrieb Rosa Luxemburg, »stehen heute naturgemäß im
Vordergrunde unseres Kampfes und wecken ein lautes Echo in den Herzen von Millionen. […] Die gewaltigen Scharen der Unzufriedenen,
der Ausgebeuteten und Geknechteten, die jetzt in unsere Versammlungen, zu unseren Demonstrationen eilen, sollen aus unserem
Munde nicht bloß Worte der geißelnden Kritik gegen die in Preußen-Deutschland herrschende Reaktion, sondern auch Worte des
sozialistischen Evangeliums, Grundsätze einer neuen sozialen Welt
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