Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Weiterentwicklung der Menschheit«.
Die Angeklagte habe sich keines Verbrechens schuldig gemacht. Das Strafmaß »erinnert an Reformationszeiten, wo man sie gehängt
und gerädert hat, die anderen Sinnes waren« 21 . Rosa Luxemburg werde auf keinen Fall fliehen, denn sie habe in Deutschland eine Partei und »Hunderttausende, die sie lieben
und die sie wieder liebt, und die sie nicht im Stiche lassen wird, auch nicht um eines Jahres Gefängnisses willen« 22 .
Rosa Luxemburgs brillante Verteidigungsrede ist in die Literatur als eine ihrer berühmtesten Reden eingegangen. Peter Nettl
druckte sie deshalb in seiner Biographie im vollen Wortlaut ab. 23 Ihre Gesamtanlage ist tatsächlich beeindruckend.
Rosa Luxemburg erklärte ihren Richtern: »… die schlichten Männer und Frauen des arbeitenden Volkes sind wohl imstande, unsere
Gedankenwelt in sich aufzunehmen, die sich im Hirn eines preußischen Staatsanwalts wie in einem schiefen Spiegel als ein Zerrbild
reflektiert. […] Herr Staatsanwalt, wir Sozialdemokraten hetzen überhaupt nicht auf! […] Was ich in jenen Frankfurter Versammlungen
tat, und was wir Sozialdemokraten stets in Wort und Schrift tun, das ist: Aufklärung verbreiten, den arbeitenden Massen ihre
Klasseninteressen und ihre geschichtlichen Aufgaben zum Bewußtsein bringen, sie auf die großen Linien der historischen Entwicklung,
auf die Tendenzen der ökonomischen, politischen und sozialen Umwälzungen hinweisen, die sich im Schoße unserer heutigen Gesellschaft
vollziehen, die mit eherner Notwendigkeit dazu führen, daß auf einer gewissen Höhe der Entwicklung die bestehende Gesellschaftsordnung
beseitigt und an ihre Stelle die höhere, sozialistische Gesellschaftsordnung gesetzt werden muß. So agitieren wir, so heben
wir durch die adelnde Wirkung der geschichtlichen Perspektive, auf deren Boden wir uns stellen, auch das sittliche Leben der
Massen. Von denselben großen Gesichtspunkten aus führen wir – weil sich bei uns Sozialdemokraten alles zu einer harmonischen,
geschlossenen, |443| wissenschaftlich fundierten Weltanschauung fügt – auch unsere Agitation gegen den Krieg und den Militarismus, […] wenn, sage
ich, die Mehrheit des Volkes zu der Überzeugung gelangt, daß Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche
Erscheinung sind, dann sind die Kriege unmöglich geworden – und mag zunächst der Soldat noch den Befehlen der Obrigkeit Gehorsam
leisten! Nach der Auffassung des Staatsanwalts ist die Armee die kriegführende Partei, nach unserer Auffassung ist es das
gesamte Volk. Dieses hat zu entscheiden, ob Kriege zustande kommen oder nicht; bei der Masse der arbeitenden Männer und Frauen,
alten und jungen, liegt die Entscheidung über das Sein oder Nichtsein des heutigen Militarismus – nicht bei dem kleinen Teilchen
dieses Volkes, der im sogenannten Rock des Königs steckt.« 24
An Hand der Beschlüsse des letzten halben Jahrhunderts erläuterte Rosa Luxemburg, was revolutionäre Sozialdemokraten unter
antimilitaristischer Aktion verstanden und was die Forderung nach Abschaffung der stehenden Heere bedeutete.
In jeder Volksversammlung lege sie mit Erfolg dar, »daß Massenstreiks als eine bestimmte Periode in der Entwicklung der heutigen
Verhältnisse nicht ›gemacht‹ werden, so wenig wie die Revolutionen ›gemacht‹ werden. Die Massenstreiks sind eine Etappe des
Klassenkampfes, zu der allerdings unsere heutige Entwicklung mit Naturnotwendigkeit führt. Unsere, der Sozialdemokratie, ganze
Rolle ihnen gegenüber besteht darin, diese Tendenz der Entwicklung der Arbeiterklasse zum Bewußtsein zu bringen, damit die
Arbeiter auf der Höhe ihrer Aufgaben sind als eine geschulte, disziplinierte, reife, entschlossene und tatkräftige Volksmasse.
Sie sehen, auch hier wieder will mich der Staatsanwalt, wenn er das Gespenst des Massenstreiks in der Anklage vorführt, wie
er ihn versteht, eigentlich für seine Gedanken, nicht für die meinigen strafen. […]
Herr Staatsanwalt, ich verschmähe es für meine Person, auf alle Ihre Angriffe zu antworten. Aber eines will ich Ihnen sagen:
Sie kennen die Sozialdemokratie nicht! Im Jahre 1913 allein haben viele Ihrer Kollegen im Schweiße ihres Angesichts dahin
gearbeitet, daß über unsere Presse insgesamt die Strafe von 60 Monaten Gefängnis ausgeschüttet wurde.
Der
Vorsitzende unterbricht
: Wir haben keine Zeit, große |444| politische Reden anzuhören.
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