Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
kriegführenden Länder ausgehen. Der erste Schritt sei die »Umkehr auf der Bahn des Sozialimperialismus« 12 . Es gebe nur ein Entweder-Oder: »Entweder der Klassenkampf oder die Klassenharmonie« – »entweder Bethmann Hollweg oder –
Liebknecht. Entweder Imperialismus oder Sozialismus, wie ihn Marx verstand.« 13 Im Sinne von Marx hieße, die Einheit von Gedanke und Tat, von scharfer historischer Analyse und kühnem revolutionärem Handeln
herzustellen und die sozialistische Bewegung vor Deformationen zu schützen. Nur durch Kritik und Selbstkritik in den eigenen
Reihen, durch Besinnung auf die eigene Macht und durch Klassenkampf gegen den Krieg könne die Internationale neu aufgebaut
werden.
Zu Recht prangerte Rosa Luxemburg die Politik der Kriegskreditbewilligung und des Stillhaltens im Krieg als Verrat an und
rief zum Widerstand auf. Der von ihr verabscheute Nationalismus hatte im ersten Kriegsjahr den bis dahin in der Arbeiterbewegung
verfochtenen Internationalismus nahezu ausgelöscht. Die schier ausweglose Situation in den Organisationen der Arbeiterbewegung
ließ die Politikerin rigorose Urteile fällen. Der Begriff »Sozialimperialismus« – Lenin sprach bekanntlich von »Sozialchauvinismus«
– und das apodiktische »Entweder-Oder« erschwerten es Rosa Luxemburg allerdings, Erklärungen für zeitweilige Verirrungen bisheriger
Mitstreiter zu finden und mit Verständnis und Toleranz um Kämpfer gegen den Krieg und für die Erneuerung der Sozialdemokratie
wie der Internationale zu ringen. Der Terminus »Sozialimperialisten« hinderte manche Sozialdemokraten, die allmählich zur
Umkehr bereit waren, Zugang zu Rosa Luxemburgs sachlichen |485| Argumenten zu suchen. Bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erwies sich, daß Wertungen wie Sozialimperialisten oder Sozialchauvinisten
im Meinungs- und Richtungskampf persönlich verletzend wirken und zu Fehlurteilen über die Spaltung sowie die Hauptgegner der
Arbeiterbewegung führen.
Für das erste Heft der neuen Zeitschrift bereitete Rosa Luxemburg auch eine Rezension von Karl Kautskys jüngster Broschüre
»Nationalstaat, Imperialistischer Staat und Staatenbund« vor. Sie sollte unter dem Pseudonym Mortimer und mit dem Titel »Perspektiven
und Projekte« erscheinen. Seit Rosa Luxemburg mit Kautsky über die Politik der Partei im Streit lag und den politischen Verkehr
mit ihm abgebrochen hatte, kritisierte sie ihn besonders bissig. Seine neue Arbeit über Herkunft und Zukunft des Nationalstaates
glossierte sie vor allem wegen des Nationalstaatsschemas der modernen Demokratie: Es entspringe unhistorischem Herangehen
und spreche auf Grund der Loslösung von der ökonomischen Basis dem Materialismus hohn. Kautsky verkläre den Stellenwert des
bürgerlichen Parlamentarismus und der »modernen Demokratie« im sozialdemokratischen Zukunftsstreben generell. Für Rosa Luxemburg
war unfaßbar, wie dieser langjährige Theoretiker der Internationale in der vom Imperialismus verschuldeten Kriegskatastrophe
»sein Liedlein von der ›Abrüstung‹, vom ›Nationalstaat‹, von der ›demokratischen Entwicklung‹ und vom Freihandel als den nächsten
Zukunftsperspektiven des Kapitalismus ›in dessen eigenem Interesse‹« 14 singen konnte und warum er nicht begriff, daß sich der Imperialismus durch die Kriegsinszenierung in seine Schlußphase katapultiert
habe. Immer wieder brächten ihn seine Versuche, zwischen rechts und links zu lavieren und versöhnen zu wollen, in so zwiespältige
Situationen, daß er kaum zur Orientierung beitragen könne. Zweifellos wolle er gegen die Rechten zu Felde ziehen. Da er jedoch
zugleich den äußersten Linken Hiebe versetze, verzerre er deren Ansichten durch die verleumderische Behauptung, sie wollten
das Parlament durch den Massenstreik und den Imperialismus sofort durch den Sozialismus ersetzen. Damit erleichtere er den
Rechten de facto die Arbeit und nehme nicht dem Imperialismus und Militarismus, sondern der Sozialdemokratie den Stachel.
|486| Trotz Haftantrittsbefehls und des wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes gewährten Aufschubs nahm Rosa Luxemburg an Veranstaltungen
teil. Am 10. Februar 1915 sprach sie vor ca. 600 Teilnehmern auf der Generalversammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins
in Berlin-Charlottenburg über »Die Situation in der SPD«. Ihre Kritik fiel geharnischt aus, hatte sie doch erfahren, daß die
Mehrheit der sozialdemokratischen
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