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Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
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und beschrieb auf dem Blatt den ungewöhnlichen Fundort. Als Mathilde Jacob ihr, der Goethe-Verehrerin,
     aus Weimar zwei Efeublätter vom Grabe der Frau von Stein sandte, schrieb Rosa Luxemburg über Frau von Stein: »Gott straf mich,
     aber sie war eine Kuh. Sie hat sich nämlich, als Goethe ihr den Laufpaß gab, wie eine keifende Waschfrau benommen, und ich
     bleibe dabei, daß der Charakter einer Frau sich zeigt nicht, wo die Liebe beginnt, sondern wo sie endet. Von allen Dulcineen
     Goethes gefällt mir auch nur die feine zurückhaltende Marianne von Willemer, die ›Suleika‹ des ›Westöstlichen Diwan‹«. 56
    Das Botanisieren blieb eine ihrer Leidenschaften und »beste Erholung nach der Arbeit« 57 . Mathilde Jacob wurde besonders gelobt, weil sie inzwischen selbst famos zu pressen verstand und immer so bezaubernde Sträuße
     brachte: Frische gelbe Himmelschlüssel beleuchteten Rosa Luxemburgs Zelle |506| wie Sonnenlicht, nicht umsonst würden sie im Französischen »Chandelier«, der Leuchter, heißen. 58
    Ihren engsten Freunden gewährte Rosa Luxemburg in Briefen Einblick in die Atmosphäre, die sie umgab bzw. die sie sich phantasievoll
     schuf. Hans Diefenbach schilderte sie z. B. zwei Jahre später, wie es ihr in der Barnimstraße gelang, sich durch wenige Laute
     von draußen das Leben auf der Straße und in den umliegenden Häusern auszumalen und plötzlich ihre Einsamkeit zu verwinden.
     »Um 9 Uhr legte ich mich immer – da das Licht ausging – nolens volens ins Bett, konnte aber natürlich nicht einschlafen. Kurz
     nach 9 begann regelmäßig in der nächtlichen Stille in irgendeiner der benachbarten Mietskasernen das Weinen eines zwei- bis
     dreijährigen Bübchens. Es hub an stets durch ein paar leise, abgerissene Wimmerlaute, frisch aus dem Schlaf; dann, nach einigen
     Pausen, schluchzte sich das kleine Kerlchen allmählich in ein richtiges klägliches Weinen hinein, das jedoch nichts Heftiges
     hatte, keinen bestimmten Schmerz oder bestimmtes Begehren ausdrückte, nur allgemeine Unbehaglichkeit vom Dasein, Unfähigkeit,
     mit den Schwierigkeiten des Lebens und seinen Problemen fertig zu werden, zumal Mama offenbar nicht bei der Hand war. Dieses
     hilflose Weinen dauerte geschlagene drei Viertel Stunden. Punkt um 10 hörte ich die Tür energisch aufgehen, leichte rasche
     Schritte, die in der kleinen Stube laut hallten, eine klangvolle, jugendliche Frauenstimme, der man noch die Frische der Straßenluft
     anhörte: ›Warum schläfst Du denn nicht? Warum schläfst Du denn nicht?‹ Worauf jedesmal drei saftige Klapse folgten, aus denen
     man förmlich die appetitliche Rundung und die Bettwärme des betroffenen kleinen Körperteils herausfühlte. Und – o Wunder!
     – die drei kleinen Klapse lösten plötzlich alle Schwierigkeiten und verwickelten Probleme des Daseins spielend. Das Wimmern
     hörte auf, das Bübchen schlief augenblicklich ein, und eine erlösende Stille herrschte wieder im Hof. Diese Szene wiederholte
     sich so regelmäßig jeden Abend, daß sie zu meinem eigenen Dasein gehörte. Ich pflegte schon um 9 Uhr mit gespannten Nerven
     auf das Erwachen und Wimmern meines kleinen unbekannten Nachbars zu warten, dessen alle Register ich im voraus kannte und
     verfolgte, wobei sich das Gefühl der Ratlosigkeit dem Leben gegenüber mir |507| vollauf mitteilte. Dann wartete ich auf die Heimkehr der jungen Frau, auf ihre wohltönende Frage und namentlich auf die befreienden
     drei Klapse. Glauben Sie mir, Hänschen, dies altväterische Mittel, Daseinsprobleme zu lösen, bewirkte durch den Podex des
     kleinen Bübchens auch in meiner Seele Wunder: Meine Nerven entspannten sich sofort nach den seinen, und ich schlief jedesmal
     fast gleichzeitig mit dem Kleinen ein. Nie habe ich erfahren, aus welchem geraniengeschmückten Fenster, aus welchem Dachstübchen
     sich diese Fäden zu mir spannten. Im grellen Tageslicht sahen alle Häuser, die ich überblicken konnte, gleich grau, nüchtern
     und streng verschlossen aus, mit der Miene: ›Wir wissen von nichts.‹ Erst im nächtlichen Dunkel, durch den linden Hauch der
     Sommerluft spannen sich geheimnisvolle Beziehungen zwischen Menschen, die sich nie kannten oder sahen.« 59
    Auch das Gackern eines Huhns gefiel Rosa Luxemburg als Begleitung ihrer Denkprozesse. Der Schrei einer Wildgans entlockte
     ihr solches Entzücken, daß sie einmal mehrere dieser Vögel auf dem Briefkopf skizzierte und schrieb: »[…] wahrhaftig, wenn
     ich diesen

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