Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
und beschrieb auf dem Blatt den ungewöhnlichen Fundort. Als Mathilde Jacob ihr, der Goethe-Verehrerin,
aus Weimar zwei Efeublätter vom Grabe der Frau von Stein sandte, schrieb Rosa Luxemburg über Frau von Stein: »Gott straf mich,
aber sie war eine Kuh. Sie hat sich nämlich, als Goethe ihr den Laufpaß gab, wie eine keifende Waschfrau benommen, und ich
bleibe dabei, daß der Charakter einer Frau sich zeigt nicht, wo die Liebe beginnt, sondern wo sie endet. Von allen Dulcineen
Goethes gefällt mir auch nur die feine zurückhaltende Marianne von Willemer, die ›Suleika‹ des ›Westöstlichen Diwan‹«. 56
Das Botanisieren blieb eine ihrer Leidenschaften und »beste Erholung nach der Arbeit« 57 . Mathilde Jacob wurde besonders gelobt, weil sie inzwischen selbst famos zu pressen verstand und immer so bezaubernde Sträuße
brachte: Frische gelbe Himmelschlüssel beleuchteten Rosa Luxemburgs Zelle |506| wie Sonnenlicht, nicht umsonst würden sie im Französischen »Chandelier«, der Leuchter, heißen. 58
Ihren engsten Freunden gewährte Rosa Luxemburg in Briefen Einblick in die Atmosphäre, die sie umgab bzw. die sie sich phantasievoll
schuf. Hans Diefenbach schilderte sie z. B. zwei Jahre später, wie es ihr in der Barnimstraße gelang, sich durch wenige Laute
von draußen das Leben auf der Straße und in den umliegenden Häusern auszumalen und plötzlich ihre Einsamkeit zu verwinden.
»Um 9 Uhr legte ich mich immer – da das Licht ausging – nolens volens ins Bett, konnte aber natürlich nicht einschlafen. Kurz
nach 9 begann regelmäßig in der nächtlichen Stille in irgendeiner der benachbarten Mietskasernen das Weinen eines zwei- bis
dreijährigen Bübchens. Es hub an stets durch ein paar leise, abgerissene Wimmerlaute, frisch aus dem Schlaf; dann, nach einigen
Pausen, schluchzte sich das kleine Kerlchen allmählich in ein richtiges klägliches Weinen hinein, das jedoch nichts Heftiges
hatte, keinen bestimmten Schmerz oder bestimmtes Begehren ausdrückte, nur allgemeine Unbehaglichkeit vom Dasein, Unfähigkeit,
mit den Schwierigkeiten des Lebens und seinen Problemen fertig zu werden, zumal Mama offenbar nicht bei der Hand war. Dieses
hilflose Weinen dauerte geschlagene drei Viertel Stunden. Punkt um 10 hörte ich die Tür energisch aufgehen, leichte rasche
Schritte, die in der kleinen Stube laut hallten, eine klangvolle, jugendliche Frauenstimme, der man noch die Frische der Straßenluft
anhörte: ›Warum schläfst Du denn nicht? Warum schläfst Du denn nicht?‹ Worauf jedesmal drei saftige Klapse folgten, aus denen
man förmlich die appetitliche Rundung und die Bettwärme des betroffenen kleinen Körperteils herausfühlte. Und – o Wunder!
– die drei kleinen Klapse lösten plötzlich alle Schwierigkeiten und verwickelten Probleme des Daseins spielend. Das Wimmern
hörte auf, das Bübchen schlief augenblicklich ein, und eine erlösende Stille herrschte wieder im Hof. Diese Szene wiederholte
sich so regelmäßig jeden Abend, daß sie zu meinem eigenen Dasein gehörte. Ich pflegte schon um 9 Uhr mit gespannten Nerven
auf das Erwachen und Wimmern meines kleinen unbekannten Nachbars zu warten, dessen alle Register ich im voraus kannte und
verfolgte, wobei sich das Gefühl der Ratlosigkeit dem Leben gegenüber mir |507| vollauf mitteilte. Dann wartete ich auf die Heimkehr der jungen Frau, auf ihre wohltönende Frage und namentlich auf die befreienden
drei Klapse. Glauben Sie mir, Hänschen, dies altväterische Mittel, Daseinsprobleme zu lösen, bewirkte durch den Podex des
kleinen Bübchens auch in meiner Seele Wunder: Meine Nerven entspannten sich sofort nach den seinen, und ich schlief jedesmal
fast gleichzeitig mit dem Kleinen ein. Nie habe ich erfahren, aus welchem geraniengeschmückten Fenster, aus welchem Dachstübchen
sich diese Fäden zu mir spannten. Im grellen Tageslicht sahen alle Häuser, die ich überblicken konnte, gleich grau, nüchtern
und streng verschlossen aus, mit der Miene: ›Wir wissen von nichts.‹ Erst im nächtlichen Dunkel, durch den linden Hauch der
Sommerluft spannen sich geheimnisvolle Beziehungen zwischen Menschen, die sich nie kannten oder sahen.« 59
Auch das Gackern eines Huhns gefiel Rosa Luxemburg als Begleitung ihrer Denkprozesse. Der Schrei einer Wildgans entlockte
ihr solches Entzücken, daß sie einmal mehrere dieser Vögel auf dem Briefkopf skizzierte und schrieb: »[…] wahrhaftig, wenn
ich diesen
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