Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
redaktionellen
Notiz. Die Befürchtungen resultierten nicht aus dem subjektiven Verhalten der Bolschewiki, sondern aus der schwierigen objektiven
Lage. Der Artikel erscheine |571| vornehmlich wegen der Schlußfolgerung: ohne die deutsche Revolution keine Rettung der russischen Revolution. 195 Rosa Luxemburg empörte sich gegen diese Verfahrensweise und sandte Meyer einen noch kritischeren Artikel zur Taktik der Bolschewiki,
der ihm für eine Veröffentlichung völlig ungeeignet schien. Auf seine Bitte hin fuhr Paul Levi, der Meyers Meinung teilte,
nach Breslau, um sich mit Rosa Luxemburg zu verständigen. Daraufhin plante Rosa Luxemburg eine ausführliche Darstellung ihrer
Meinung zur Innen- und Außenpolitik der Bolschewiki. »Sie teilte mir den Inhalt aus dem Gefängnis in großen Zügen durch eine
vertraute Freundin mit«, schrieb Paul Levi später, »wobei sie bemerkte, sie sei eifrig an der Arbeit, eine ausführliche Kritik
über die Vorgänge in Rußland zu schreiben. ›Ich schreibe diese Broschüre für Sie – fügte Rosa Luxemburg hinzu – und wenn ich
nur Sie damit überzeugt haben werde, so habe ich diese Arbeit nicht vergeblich geleistet.‹ Als Material dienten ihr nicht
nur die deutschen Zeitungen, sondern die gesamte bis dahin erschienene russische Zeitungs- und Broschürenliteratur, die damals
durch die Russische Botschaft nach Deutschland kamen, und die ihr von vertrauten Freunden ins Gefängnis geschmuggelt wurden.« 196
So entstand das umstrittene, unvollendet gebliebene Manuskript »Zur russischen Revolution«, das zu Lebzeiten Rosa Luxemburgs
außer Paul Levi niemand bekannt wurde, auch den Adressaten ihrer Kritik – Lenin, Trotzki und der Partei der Bolschewiki –
nicht. Erstmalig veröffentlicht wurde es 1922 von Paul Levi, den die Kommunisten 1921/22 des Verrats bezichtigten und aus
der KPD sowie der Kommunistischen Internationale ausschlossen. Nachdem Ossip K. Flechtheim die Arbeit 1963 herausgegeben hatte
und weitere Drucke erschienen waren, wurde es auch in der DDR publiziert. In russischer Sprache erschien es in Moskau erstmalig
1990. 197
Rosa Luxemburg schrieb das Manuskript »Zur russischen Revolution« im September/Oktober 1918, als sie nach dem Brester Frieden
über die Liquidierung von Sozialrevolutionären durch die Sowjetmacht zutiefst betroffen war. Im Zusammenhang mit der Ermordung
des deutschen Botschafters Wilhelm Graf von Mirbach-Harff hatten linke Sozialrevolutionäre am 6. Juli 1918 in Moskau einen
Putsch zur Beseitigung der |572| Sowjetmacht inszeniert. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und Hunderte Sozialrevolutionäre wurden verhaftet und erschossen.
Am 25. Juli hatte Rosa Luxemburg ihre Bemerkung über die »Weltuntergangsatmosphäre« unter anderem auf dieses für sie unfaßbare
Blutbad des roten Terrors bezogen. »Vielleicht sind es speziell die 200 ›Sühne-Hinrichtungen‹ in Moskau, von denen ich gestern
in den Zeitungen las, die es mir angetan haben …«, teilte sie Luise Kautsky erschüttert mit. 198
Etwa um dieselbe Zeit schrieb sie Julian Marchlewski, die letzte Wendung der Dinge mache auf sie einen hundsgemeinen Eindruck.
»Man möchte die Bolschewiki mächtig beschimpfen, aber natürlich die
Rücksichten
erlauben das nicht … Vielleicht machen diese Dinge auf Sie da mitten im Gewühl nicht einen solchen fatalen Eindruck wie hier,
vielleicht benachrichtigen Sie mich weiterhin möglichst genau über das, was passiert.« 199 Dieser Brief wurde über die Russische Botschaft in Berlin nach Moskau befördert, wo Julian Marchlewski als Volkskommissar
für die Lebensmittelversorgung verantwortlich war.
Ihr größtes Anliegen war, daß sich Marchlewski mit den in Moskau tätigen polnischen Revolutionären Stefan Bratman-Brodowski,
Adolf Warski und Feliks Dzierżyński für die Freilassung von Leo Jogiches einsetzte. Jogiches war im März 1918 verhaftet worden.
Seither sei die politische Arbeit der Spartakusgruppe fast »vor die Hunde gegangen«, stellte Rosa Luxemburg verärgert fest. 200 Jogiches, dem wegen seiner einflußreichen Rolle beim Januarstreik 1918 in den Rüstungsbetrieben die Todesstrafe drohe, werde
dringend gebraucht. Seine Schweizer und russische Staatsbürgerschaft schienen für einen eventuellen Gefangenenaustausch zwischen
Deutschland und Sowjetrußland nützlich sein zu können, doch ein solcher Austausch kam nicht zustande.
Die Spartakusgruppe wurde erst wieder aktiver, als im
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