Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt,
wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird.« 214
Nicht minder massiv polemisierte Rosa Luxemburg gegen Karl Kautsky und Philipp Scheidemann, die durch ihre Zweifel an der
Reife der Situation und der Fähigkeit der Bolschewiki Unglauben an den Sieg der proletarischen Revolution säten und die Erhebung
in Rußland ausschließlich auf bürgerlich-demokratische Forderungen und Institutionen festschreiben wollten. Sie kritisierte
an ihrem defensiven Verhalten zu einer revolutionären Erhebung in Deutschland ihr notorisches Unverständnis dafür, daß man
eine Revolution weder zu einem |577| geeignet erscheinenden Zeitpunkt initieren noch nach eigenem Ermessen vertagen könne. Überall käme es jetzt auf Wagemut im
engsten Kontakt mit den Massen an, deren Initiative zum entscheidenden Faktor werden müsse.
Mit ihrem Programm besitze die Partei der Arbeiterklasse zwar einen Wegweiser zum Sozialismus, aber sie könne keine absolut
gültigen Richtlinien vorgeben. »Um die sozialistischen Grundsätze in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen
Beziehungen einzuführen« 215 , bedürfe es nie erlahmender Schöpferkraft der Führer wie der Massen. Dabei könne es naturgemäß zu Fehlentscheidungen kommen.
Rosa Luxemburg kritisierte in dem Zusammenhang die Verteilung des Bodens an die Bauern, weil dadurch neues Privateigentum
an Produktionsmitteln entstehe. Ohne Nationalisierung des großen und mittleren Grundbesitzes und ohne Vereinigung der Industrie
und der Landwirtschaft als zwei grundlegenden Gesichtspunkten jeder sozialistischen Wirtschaftsreform gäbe es keinen Sozialismus.
Diese Ansichten befanden sich jedoch im Widerspruch zur Forderung nach Aufteilung des Grund und Bodens, die von der Mehrheit
der bäuerlichen Bevölkerung Rußlands erhoben wurden. Sie haben bisher ebensowenig Bestätigung gefunden wie ihre Polemik gegen
das Recht auf nationale Selbstbestimmung bis zur staatlichen Eigenständigkeit. Rosa Luxemburg meinte, darunter leide der Internationalismus
und die Einheit des sozialistischen Staatswesens werde zerstört bzw. gefährdet. Sie war nach wie vor davon überzeugt, daß
Fragen der nationalen Existenz und Selbstbestimmung um der welthistorischen Perspektive des sozialen Befreiungskampfes willen
als überlebte und untergeordnete Probleme abgetan werden könnten. Dieses Fehlurteil veranlaßte sie, die Gründung des polnischen
Staates zu mißbilligen. 216
Ihre Charakteristik von Exzessen des Nationalismus und nationalen Illusionen hat jedoch nichts an Aktualität verloren. So
schrieb sie z. B. im »Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution«: »Der Gedanke des Klassenkampfes kapituliert hier
formell vor dem nationalen Gedanken. Die Harmonie der Klassen in jeder Nation erscheint als Voraussetzung und Ergänzung der
Harmonie der Nationen, die im ›Völkerbund‹ aus dem Weltkriege steigen soll. Der Nationalismus ist augenblicklich |578| Trumpf. Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an. Vermoderte Leichen steigen
aus hundertjährigen Gräbern, von neuem Lenztrieb erfüllt, und ›geschichtslose‹ Völker, die noch nie selbständige Staatswesen
bildeten, verspüren einen heftigen Drang zur Staatenbildung. Polen, Ukrainer, Weißrussen, Litauer, Tschechen, Jugoslawen,
zehn neue Nationen des Kaukasus. Zionisten errichten schon ihr Palästina-Ghetto, vorläufig in Philadelphia – auf dem nationalistischen
Blocksberg ist heute Walpurgisnacht.« 217
Heftig polemisierte sie gegen die Auflösung der Konstituante, gegen den Entzug des allgemeinen Wahlrechts für alle, die nicht
arbeiteten, sowie gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, des Versammlungs- und des Vereinsrechts. In diese kritischen
Überlegungen über die Demokratie als Volksherrschaft flossen Erfahrungen mit der innerparteilichen Demokratie der deutschen
Sozialdemokratie, Erkenntisse aus der Polemik mit Bernstein, Millerand, Jaurès, Vandervelde, Kautsky, Lenin und anderen über
Sozialreform und Revolution, Folgerungen aus den Kämpfen gegen undemokratische Zustände im deutschen Kaiserreich, aus der
Revolution von 1905 bis 1907 gegen den Zarismus und Beobachtungen über die Handhabung bürgerlich-demokratischer Rechte in
der Schweiz, in Frankreich, Belgien, Holland und England. Das
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