Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Sommer 1918 Paul Levi nach Berlin kam. Er hatte nach seiner Genesung
längere Zeit in der Schweiz gelebt und stand dort auch mit Karl Radek und Lenin in Kontakt.
Trotz ihrer »Sicherheitshaft« nahm Rosa Luxemburg dezidiert Stellung zu den aktuellen Ereignissen. Der ständige intensive
Kontakt zu ihren deutschen, polnischen und russischen |573| Genossen war für sie lebenswichtig, um die Inhaftierung und die erzwungene Handlungsunfähigkeit zu ertragen. Sie wisse sehr
wohl, erklärte Rosa Luxemburg Stefan Bratman-Brodowski am 3. September 1918, daß es keinen bequemen Weg in der Revolution
gebe und man alle »fatalen« Umstände berücksichtigen müsse. Doch ganz zu schweigen sei unmöglich. Julian Marchlewski habe
ihr geschrieben, er gehe wohl völlig in der »Lebensmittelsache« unter, die natürlich lebenswichtig sei – »auf kurze Sicht«.
Den allgemeinen politischen Kurs ändere weder Marchlewski »noch ein anderer von unseren Leuten dort, sie schwimmen im allgemeinen
Strom, den andere lenken, aber eigentlich lenkt – das Fatum nach der einmal in Brest eingeschlagenen Richtung.« 201 Besonders drastisch übermittelte Rosa Luxemburg ihre kritische Meinung am 30. September 1918 an Julian Marchlewski. »Eure
Situation, wie Sie sie beschreiben, stellt sich mir von fern genauso dar. Eine fatale Lage. Daß man unter solchen Bedingungen,
d. h. von allen Seiten in der Zange der Imp[erialisten], weder den Soz[ialismus] noch die Diktatur des Prol[etariats] verwirklichen
kann, sondern höchstens eine Karikatur beider, ist klar. Ich fürchte jedoch, daß diese Sache für Sie, für mich und ein paar
andere klar ist. Hingegen fürchte ich, daß Józef [Dzierżyński] sich verrannt hat, [wenn er glaubt], daß man mit Energie beim
Aufspüren von ›Verschwörungen‹ und beim Ermorden von ›Verschwörern‹ die ökonomischen und politischen Löcher stopfen kann.
Der Einfall von Radek z. B., ›die Bourgeoisie abzuschlachten‹ oder auch nur eine Drohung in diesem Sinn, das ist doch Idiotie
summo grado; nur Kompromittierung des Soz[ialismus], nichts weiter.« 202
Immer wieder kritisierte Rosa Luxemburg auch die einseitige Außenpolitik nach dem Frieden von Brest-Litowsk, die sich zu sehr
auf die Enthüllung und die Abwehr anglo-französischer Verschwörungen orientiere und immer stärker zu einer »Allianz« mit den
Mittelmächten neige. Für völlig absurd und verurteilenswert hielt sie das Schönfärben innen- wie außenpolitischer Probleme.
Solche Manipulation sei nicht mit Schlamperei oder Unfähigkeit zu entschuldigen. 203
Terror, Verletzung der Demokratie, »Verschwörertaktik« und ein die Öffentlichkeit betrügendes Paktieren mit außenpolitischen |574| Gegnern waren die Hauptkritikpunkte an der Politik der Bolschewiki, die sie sowohl in ihren Briefen als auch in der Schrift
»Zur russischen Revolution« darlegte. Sie entsprang ihrer absoluten Solidarität mit der russischen Revolution als dem gewaltigsten
Faktum der Weltgeschichte wie ihrer Sorge um das Schicksal des weltrevolutionären Befreiungsprozesses von Imperialismus und
Krieg. 204 Die Oktoberrevolution sei das »erste welthistorische Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse, und zwar unter den denkbar
schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und Chaos eines imperialistischen Völkermordens, in der eisernen Schlinge der
reaktionärsten Militärmacht Europas, unter völligem Versagen des internationalen Proletariats« 205 , deshalb könne sie nicht die Funktion eines allgemeingültigen Modells erfüllen, im Gegenteil. Am Schluß wiederholte Rosa
Luxemburg die gleich zu Beginn ihres Manuskripts ausgesprochene Warnung vor kritiklosem Apologetentum 206 : »Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik
nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen [Proletariat] als das Muster der sozialistischen Taktik
zur Nachahmung empfehlen wollen.« 207
Insgesamt ging es ihr um die Würdigung der welthistorischen Bedeutung dieser Revolution mit der Lenin-Trotzki-Partei an der
Spitze und um die Enthüllung des zwiespältigen Verhältnisses von sozialdemokratischen Politikern wie Philipp Scheidemann und
marxistischen Theoretikern wie Karl Kautsky zur Erhebung in Rußland. Sie wollte der historischen Skepsis bzw. politischen
Distanz, die beide trotz Solidaritätsbekundungen verbreiteten, entgegentreten. Die
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