Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Hoffen war auf die proletarische Weltrevolution ausgerichtet. Einen Sieg der proletarischen |569| Revolution in einem Land allein und noch dazu in Rußland vermochte sie sich nicht vorzustellen. Umso mehr erschütterte sie
der Frieden von Brest-Litowsk, der am 3. März 1918 nach mehrmonatigen Verhandlungen zwischen den Vertretern der Sowjetregierung
und den Mittelmächten unterzeichnet wurde und der jungen Sowjetmacht außerordentlich schwere Bedingungen diktierte.
Die Bolschewiki waren in eine teuflische Zwangslage geraten. Sie hatten in neun Bänden eine »Sammlung geheimer Dokumente aus
den Archiven des ehemaligen Außenministeriums« veröffentlicht, durch die der allseitig imperialistische Charakter des ersten
Weltkrieges schonungslos entlarvt wurde, und aufgefordert, den Krieg auf demokratischem Wege, ohne Annexionen und Kontributionen,
zu beenden, fanden aber keinen Widerhall. 188 Das Land war wirtschaftlich erschöpft, das Volk kriegsmüde, die neue Macht mußte gefestigt werden. Lenin schrieb: »Wer gegen
einen sofortigen, wenn auch noch so schweren Frieden ist, richtet die Sowjetmacht zugrunde.« 189 Die Revolution brauchte eine Atempause; der Brester Frieden sollte sie ihr verschaffen.
Rosa Luxemburg lehnte diesen Frieden ab. »Und nun droht den Bolschewiki als Endstation ihres Dornenwegs das Schrecklichste:
Wie ein unheimliches Gespenst nähert sich – ein Bündnis der Bolschewiki mit Deutschland! Das wäre allerdings das letzte Glied
in der verhängnisvollen Kette, die der Weltkrieg um den Hals der russischen Revolution geschlungen hat: erst Zurückweichen,
dann Kapitulation und schließlich ein Bündnis mit dem deutschen Imperialismus.« 190 Sie erkannte das Dilemma, doch ihre Schlußfolgerung war: »Den imperialistischen Weltkrieg kann nur eine proletarische Weltrevolution
liquidieren.« 191 Für das russische Proletariat gebe es faktisch keine richtige Taktik, »welche es wählen mag, sie wird falsch sein« 192 . Das erlösende Wort könne eben nur die proletarische Weltrevolution sprechen. Lenin wandte sich ganz entschieden gegen solche
Ansichten. Der Brester Frieden führte nicht zu dem vielfach prophezeiten Zusammenbruch der Sowjetmacht, aber die russische
Revolution und die von diesem Raubfrieden betroffenen Völker trugen tiefe Wunden davon, die immer wider aufbrachen.
|570| Die große Offensive des deutschen Generalstabs, die er am 21. März 1918 an der Westfront begann, brach im Juli zusammen. Deutschlands
Niederlage zeichnete sich immer deutlicher ab. Im Osten wurden deutsche Soldaten, wie Lenin feststellte, »vom Geist der russischen
Revolution infiziert« 193 . Bereits im Frühjahr 1918 kam es unter den deutschen Truppen im Baltikum, in Belorußland und in der Ukraine zu Meutereien
und Aufständen. Die Niederwerfung der Revolution in Lettland, Finnland und in der Ukraine bezahlte Deutschland mit der beginnenden
Zersetzung seiner Armee.
Karl Liebknecht stand in der ersten Etappe den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk wie Rosa Luxemburg ablehnend gegenüber
und sprach sich für einen revolutionären Krieg aus, der in den imperialistischen Ländern die Widersprüche rasch verschärfen
und den Ausbruch der Revolution beschleunigen würde. Nach dem deutschen Überfall auf das revolutionäre Rußland im Februar
1918 sah Karl Liebknecht, daß es zur Rettung der russischen Revolution keine andere Möglichkeit gab, als auf die räuberischen
Friedensbedingungen einzugehen. »Durch die russischen Delegierten wurde Brest zur weithin vernehmbaren revolutionären Tribüne.
Es brachte die Entlarvung der Mittelmächte, die Entlarvung der deutschen Raubgier, Verlogenheit, Hinterlist und Heuchelei.
[…] Es hat in verschiedenen Ländern bedeutsame Massenbewegungen zu entfesseln vermocht. […] Es wird sich zeigen, welche Ernte
den heutigen Triumphatoren aus dieser Saat reifen wird«, schrieb er und prophezeite: »Sie sollen ihrer nicht froh werden.« 194
Rosa Luxemburg beharrte indes auf ihrer Ablehnung des Brester Friedens. Deutlich brachte sie das in ihrem Artikel »Die russische
Tragödie« zum Ausdruck, der im September 1918 in Nr. 11 der Spartakusbriefe zu lesen war. Die Redaktion war mit den kritischen
Attacken Rosa Luxemburgs auf den Brester Frieden nicht einverstanden. Ernst Meyer, der nach der Verhaftung von Leo Jogiches
im Frühjahr 1918 die Briefe zusammenstellte, veröffentlichte den Artikel Rosa Luxemburgs mit einer einschränkenden
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