Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Allerwichtigste sei, die lebendige Einwirkung der Stimmung und
der politischen Reife der Massen auf die gewählten Körperschaften ständig zu gewährleisten. Der »Pulsschlag des Volkslebens«
dürfe nie versiegen, »und je demokratischer die Institutionen, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen
Lebens der Masse, um so unmittelbarer und genauer die Wirkung.« 218 Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen seien das kräftigste Korrektiv für den schwerfälligen
Mechanismus von Institutionen. Freier Meinungskampf schütze vor Bürokratie. Öffentliche Kontrolle verhindere den Verlust an
Erfahrungen und bewahre vor Korruption. 219 Politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse sei für die sozialistische Demokratie »das Lebenselement, die Luft,
ohne die sie nicht zu existieren vermag« 220 . Nur so könnten die Diktatur des Proletatiats und die sozialistische |579| Demokratie vor Einengung, Erstarrung und Entartung bewahrt werden.
Rosa Luxemburg konnte nicht voraussehen, daß ihr kritisches Plädoyer für eine uneingeschränkte Demokratie im Sozialismus während
des 20. Jahrhunderts ständig neuen Aktualitätswert erhielt und die Deformationen sich so potenzierten, daß das mit großen
Verheißungen proklamierte sozialistische Weltsystem beim Übergang ins neue Jahrtausend nicht mehr existiert.
[ Menü ]
|580| ERHEBUNG
November 1918 – Januar 1919
Lange kann es ja nicht mehr dauern
»Über Ost und West denken und empfinden wir wohl ungefähr dasselbe oder wenigstens ähnlich«, bemerkte Rosa Luxemburg am 12.
September 1918 in einem Brief an Sophie Liebknecht. »Die Verworrenheit der Dinge scheint noch erst die unwahrscheinlichsten
Gipfel erklimmen zu wollen, ehe die menschliche Vernunft zu walten beginnt.« 1 Um sich abzulenken, las sie Botanik-Bücher und deutsche Literatur aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Meist jedoch arbeitete
sie an den Manuskripten »Zur russischen Revolution«, »Über Krieg, nationale Frage und Revolution« und weiteren Texten, denn
sie wollte eine sichere Grundlage für sofortige Aktivitäten nach der Befreiung schaffen. Auch ein bisher unveröffentlichtes
Fragment zur Geschichte der I. und II. Internationale, das zahlreiche Streichungen und Einschübe, Verweise und am Rand vermerkte
Stichworte enthält, entstand in diesen Wochen. Der teils mit Bleistift und teils mit Tinte auf drei Sorten Papier geschriebene
Text umfaßt 32 Blatt DIN A5. Auf dem obersten Blatt sind unter anderem folgende Stichworte flüchtig notiert: »Intern. u. ihre
Geschichte 1. 1864. 2. 1889. Maifeier , Instanzen … Friede . ›Nach dem Kriege‹ der Parteitag «. 2
Die nicht immer präzise ausformulierten Gedanken spiegeln Rosa Luxemburgs großen Zorn über die Konflikte zwischen Aufbruch
und Untergang der beiden Internationalen, über das Verhalten der imperialistischen Großmächte am Ende des Krieges und über
die vielen Gesichter des Widerstands gegen die russische Revolution und gegen eine europäische Revolution. Als die drei wichtigsten
der großen weltweit ungelösten Probleme bezeichnete sie die Nationalitätenfrage, das Schicksal der Kolonien und die Perspektiven
der Demokratie. Mit Sorge prognostizierte sie, die kapitalistische Gesellschaft werde das |581| Chaos nach dem Krieg nicht bewältigen, und vermerkte in Stichworten Vorschläge zur Überwindung der Schrecken: »1. Wirtschaftsproblem.
Eine ungeheure Menge Produktionsmittel ist im Kriege vernichtet worden: Eisen u. Stahl, sämtliche Rohstoffe, Kupfer, Motoren,
Schiffe, Wälder, gewaltige Strecken Ackerland u. Wiesen u. zwar in den höchst prod. [sic!] Der Hauptstamm der gelernten u.
technisch geschulten Arbeiterschaft Europas, Produkt jahrzehntelanger Kultur ist ermordet, – ebenso der Nachwuchs – nächste
Generation; der übriggebliebene zu großem Teil verkrüppelt. Also Arbeitskraft an der Wurzel angegriffen. Die bäuerliche Wirtschaft
überall verwahrlost u. heruntergekommen. Das erste wird sein: Mangel an geschulter Arbeitskraft, Mangel an Rohstoffen, u.
zugleich – Arbeitslosigkeit für die zurückflutenden Massen infolge Mangels an Rohstoffen u. der Auflösung der Kriegsindustrie.
Eine furchtbare allgemeine Wirtsch.-Krise u. eine Welthungersnot drohen unmittelbar. Dazu: erschreckender Niedergang der Volksgesundheit,
Erhöhung der Sterblichkeit, drohender heftiger Rückgang der Bevölkerung, körperliche
Weitere Kostenlose Bücher