Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
aufgewachsen, aber die großen Auseinandersetzungen über die zukünftigen Kampfesformen der Arbeiterklasse,
wie sie die deutsche Arbeiterwelt vor dem Kriege bewegten, sie haben unsere Gedanken genährt, und die russische kommunistische
Partei ist stolz darauf, daß sie einst in naher Bundesgenossenschaft mit Rosa Luxemburg, Eurer geistigen Führerin, gearbeitet
hat. Wenn Ihr beschimpft werdet als Agenten des bolschewistischen Rußlands, so sind wir gemeinsame Agenten einer großen Sache,
die über Euch und uns steht, der Sache der Befreiung des arbeitenden Volkes vom Joche des Kapitalismus.« 71 Karl Liebknecht dankte Karl Radek in bewegten Worten. Rosa Luxemburg hatte am 20. Dezember Eduard Fuchs einen Brief für Lenin
übergeben, in dem sie von »unserer Familie«, d. h. vom Spartakusbund, herzliche Grüße und Wünsche übermittelte: »Gebe Gott,
daß das kommende Jahr alle unsere Wünsche erfüllen wird.« 72
Sie ergriff auf dem Parteitag dreimal das Wort: zu ihrem Programm-Referat, in der Diskussion über die Beteiligung an den Wahlen
zur Nationalversammlung und in der Debatte über die wirtschaftlichen Kämpfe und die Rolle der Gewerkschaften.
Ihre Programmrede wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen. Sie begann mit einem Blick auf die großen bürgerlichdemokratischen
Revolutionen in Europa und die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, um den Delegierten ein tieferes Verständnis für
die gegenwärtigen und künftigen Aufgaben des Proletaritats und seiner Partei zu vermitteln. »Wir sind wieder bei Marx, unter
seinem Banner« – jetzt zeige sich, »was wahrer Marxismus ist und was dieser Ersatz-Marxismus war (›Sehr gut!‹), der sich als
offizieller Marxismus in der deutschen Sozialdemokratie so lange breitmachte. Ihr seht ja an den Vertretern dieses Marxismus,
wohin er heutzutage geraten, als Neben- und Beigeordneter der Ebert, David und Konsorten. Dort sehen wir die offiziellen Vertreter
der Lehre, die man uns jahrzehntelang als den wahren, unverfälschten Marxismus ausgegeben hat. Nein, Marxismus führte nicht
dorthin, zusammen mit den Scheidemännern konterrevolutionäre Politik zu machen.« 73
Trotz der zur Jahreswende 1918/19 bestehenden realen |612| Machtverhältnisse hielt sie an der Vision der proletarischen Weltrevolution fest. »70 Jahre der großkapitalistischen Entwicklung
haben genügt, um uns so weit zu bringen, daß wir heute Ernst damit machen können, den Kapitalismus aus der Welt zu schaffen.
Ja noch mehr: Wir sind heutzutage nicht nur in der Lage, diese Aufgabe zu lösen, sie ist nicht bloß unsere Pflicht gegenüber
dem Proletariat, sondern ihre Lösung ist heute überhaupt die einzige Rettung für den Bestand der menschlichen Gesellschaft.
(Lebhafte Zustimmung.)« 74
Zugleich betonte sie, daß das Proletariat in Deutschland seine historische Mission nicht in einem einmaligen revolutionären
Akt bewältigen werde. Die Partei habe die Aufgabe, die gesamte Arbeiterklasse bei jedem Schritt auf ihre geschichtliche Aufgabe
hinzuweisen, in jedem Stadium der Revolution das sozialistische Endziel und zugleich mit allen nationalen Belangen die Interessen
des proletarischen Internationalismus zu vertreten.
Die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten war für Rosa Luxemburg, ungeachtet nationaler Besonderheiten, eine allgemeingültige
Orientierung. »Wir können sicher sagen«, führte Rosa Luxemburg aus, »in welchem Lande auch nach Deutschland die proletarische
Revolution zum Durchbruch kommt, ihre erste Geste wird die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten sein. (›Sehr richtig!‹)« 75 Eine Gefahr für die Revolution sah Rosa Luxemburg darin, daß sich die Arbeiter über die Machtverhältnisse täuschten bzw.
bewußt irregeführt wurden. So präsentierte sich die Ebert-Scheidemann-Regierung als sozialistische Regierung, ohne die Macht-
und die sozialökonomischen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Angeblich wurde »sozialisiert«, wie es das erklärte Ziel
der Sozialdemokraten seit dem Erfurter Parteitag von 1891 war, in Wahrheit begann die Restaurierung der alten Machtverhältnisse
mit neuen Methoden. Viele, die sich für das Rätesystem entschieden, sahen sich außerstande, es als wirkliche Macht auszubauen,
erlagen Selbsttäuschungen und erwiesen sich als ohnmächtig, als ihnen sehr rasch die Einflußmöglichkeiten genommen und sie
bei wichtigen Entscheidungen von den Regierungsorganen überspielt wurden.
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