Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Neigung zum Blanquismus«. 58
|605| An diesem 15. Dezember 1918 gelang es Rosa Luxemburg, auf der außerordentlichen Verbandsgeneralversammlung der USPD von Groß-Berlin,
die in den Pharussälen stattfand, in einem Korreferat den Programmentwurf zu erläutern. Sie unterbreitete eine Resolution,
in der sie den sofortigen Austritt der Vertreter der USPD aus der Regierung Ebert-Scheidemann, die Ablehnung der Einberufung
der Nationalversammlung, die Übernahme der gesamten Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte und die sofortige Einberufung
des Parteitages der USPD forderte. 59 Ihr Antrag erhielt jedoch nur 195 Stimmen, während die Resolution von Rudolf Hilferding, die auf einen möglichst großen Erfolg
bei den Wahlen zur Nationalversammlung orientierte, von 485 Delegierten unterstützt wurde.
Am folgenden Tag, dem 16. Dezember, begann in Berlin der 1. Reichsrätekongreß, an dem 489 Delegierte teilnahmen. Zu den 10
Delegierten des Spartakusbundes gehörten u. a. Fritz Heckert und Eugen Leviné. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hatten kein
Mandat erhalten.
»Auf die Schanzen« überschrieb Rosa Luxemburg ihren Artikel zum Kongreß in der »Roten Fahne«. Sie warnte erneut vor der drohenden
Konterrevolution und klagte die Regierung Ebert-Scheidemann an, die revolutionäre Energie der Massen gelähmt und damit den
Gegnern der Revolution Vorschub geleistet zu haben. »Was hat nicht diese ›sozialistische‹ Regierung geleistet! Tag um Tag
ein Erlaß: ein Erlaß, der die alten Behördenorganisationen wiederherstellte; ein Erlaß, der versuchte, alle fortgejagten Landräte
und Polizeipräsidenten und Bürgermeister wiederherzustellen; ein Erlaß, der das Privateigentum für unantastbar erklärte; ein
Erlaß, der die Gerichte, die Organe der Klassenjustiz, für ›unabhängig‹ erklärte, ihnen den Freibrief gab für fernere Klassenjustiz;
ein Erlaß, der befahl, die Steuer zu zahlen wie bisher: nulla dies sine linea, kein Tag ohne Erlaß, der nicht ein Steinchen,
das aus dem Gebäude morscher Kapitalistenherrschaft zu fallen drohte, wieder festmauerte.« 60
Zweimal wurde auf dem Kongreß der Antrag gestellt, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wenigstens mit beratender Stimme zuzulassen.
Doch beide Anträge wurden von der Mehrheit der Delegierten niedergestimmt. Die Haltung des 1. Reichsrätekongresses |606| zu Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs Vorschlägen ließ dem Spartakusbund keine andere Wahl, als während des Reichsrätekongresses
zu Massendemonstrationen aufzurufen. 250 000 Berliner Arbeiter und Soldaten erschienen vor dem Kongreßgebäude, dem preußischen Abgeordnetenhaus. Nachdem Karl Liebknecht
zu ihnen gesprochen hatte, entsandten sie eine Deputation, die dem Kongreß die Forderungen der revolutionären Kräfte unterbreitete.
Die Abordnung hatte sich den Zutritt in den Saal erzwungen, doch die rechte Führung der SPD vermochte kraft der absoluten
Mehrheit, die sie auf diesem Kongreß besaß, ihre Politik durchzusetzen. Der Kongreß stimmte am 18. Dezember ihrem Antrag zu,
der »bis zur anderweitigen Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten«
übertrug. Zur »parlamentarischen Überwachung des deutschen und des preußischen Kabinetts« wurde ein Zentralrat der Arbeiter-
und Soldatenräte bestellt, der nur das Recht haben sollte, wichtige Gesetzesvorlagen der Regierung zu beraten. 61 In diesen Zentralrat wurden ausschließlich Sozialdemokraten gewählt. Damit war die Entscheidung über die Hauptfrage »Nationalversammlung
oder Rätesystem?« zugunsten der Nationalversammlung und damit der bürgerlichen Demokratie gefallen. »Aussperrung der revolutionären
›Straße‹, Annullierung der politischen Macht der A.-u. S.-Räte, Einberufung der Nationalversammlung, diktatorische Gewalt
der Clique des 6. Dezember – was könnte wohl die Bourgeoisie in der heutigen Situation mehr und Besseres wünschen?« 62 , schrieb Rosa Luxemburg über den Rätekongreß in der »Roten Fahne«. Die Revolution habe folglich ihr erstes, unreifes Stadium
noch nicht überschritten. Schwere und langwierige Kämpfe stünden bevor, bis die Frage »Kapitalismus oder Sozialismus?« wirklich
beantwortet werden könnte.
|607| Revolutionen brauchen offene Visiere
Die Tragik für Rosa Luxemburg und den Spartakusbund bestand darin, daß sie sich über den Willen und die Bereitschaft der Massen
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