Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Berühmtheit. Noch mehr! Sie, eine junge Frau, Fräulein sogar, werden Chefredakteurin eines großen angesehenen
Tageblattes, alles wie im Traum. Man muß sich ja ganz vor Ihnen fürchten. Hoffentlich verbietet Ihnen nun Ihre hohe Würde,
Ihren Freunden die Zunge herauszustecken.« 65
Ich dagegen kann reden
Am 2. Oktober 1898 fuhr Rosa Luxemburg von Dresden über Berlin nach Stuttgart, um – ausgestattet mit einem Mandat von Neustadt
und Beuthen-Tarnowitz (Oberschlesien) – erstmals an einem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie teilzunehmen. Sie gehörte
zu den 215 Delegierten, die am 3. Oktober um 9 Uhr im Dinckelackerschen Saalbau zusammenkamen. Wilhelm Liebknecht eröffnete
den Parteitag, auf dem neben den obligatorischen Berichten des Parteivorstandes und der Reichstagsfraktion unter anderem über
den Kampf für die Verteidigung des Koalitionsrechtes, über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen und über die
Stellung zur Zoll- und Handelspolitik debattiert werden sollte. Zu Vorsitzenden des Parteitages wurden Paul Singer, Berlin,
und Carl Kloß, Stuttgart, gewählt.
In ihrem Artikel »Zum Stuttgarter Parteitag« hatte Rosa Luxemburg in der »Sächsischen Arbeiter-Zeitung« betont, daß die deutsche
Sozialdemokratie nicht etwa zu den »Heißspornen« gehören sollte, »die alle Augenblicke den Morgenhauch der Revolution wittern«.
Dennoch wäre es wider alle Bedenken »notwendig, möglich und nützlich«, nicht nur über die anstehenden speziellen Fragen der
Taktik, sondern auch über die taktischen Grundsätze allgemein zu debattieren, ohne daß sich daraus ein »Konzil der Kirchenväter«
ergäbe. In letzter Zeit hätten die Äußerungen einiger hervorragender Genossen – sie dachte an Conrad Schmidt, Max Schippel,
Wolfgang Heine und Eduard David – eine gewisse Verwirrung angerichtet. Zu so fundamentalen Fragen des Parteilebens, wie sie
diesmal zur Diskussion stünden, müsse »die Partei
in ihrer Gesamtheit
Stellung nehmen, sie muß der richtigen Auffassung ihre
Sanktion
verleihen, |100| und dafür bietet der Parteitag die einzige Gelegenheit« 66 . Diese Meinung teilte der Parteivorstand, insbesondere Bebel, nicht. Die Behandlung von Grundsatzfragen, wie sie Bernstein
und seine Anhänger aufgeworfen hatten, wurde trotz eines nochmaligen Antrags von Clara Zetkins nicht auf die Tagesordnung
gesetzt.
Bereits die Diskussion zum Geschäftsbericht des Parteivorstandes am ersten Tag zeigte, daß es unter den Delegierten erhebliche
Differenzen über das Verhältnis von tagespolitischer Interessenvertretung des Volkes, prinzipieller Gegnerschaft zum bestehenden
System und programmatischer Zukunftsorientierung gab. Aufmerksam sah und hörte Rosa Luxemburg sich die ersten Diskussionsredner
an: Philipp Scheidemann, Julius Bruhns und Arthur Stadthagen. Mißtöne klangen das erste Mal bei Karl Ulrich an. Dann aber
erklärte Heinrich Peus herausfordernd, die Grundprinzipien müsse man nicht ständig hervorkehren. Der ganze Begriff des Endziels
sei ihm zuwider, weil es keine Endziele gäbe. Es käme darauf an, positiv und praktisch in der Gegenwart zu arbeiten und die
Massen zu gewinnen. »Das Endziel kommt, denke ich, von selber.« 67
Nach Peus trat Wolfgang Heine ans Pult, gegen den Rosa Luxemburg erst vor einigen Tagen in der »Sächsischen Arbeiter-Zeitung«
polemisiert hatte. Heine hatte in einer Wahlversammlung in Berlin erklärt, die Sozialdemokratie könne die Militärforderungen
des preußisch-deutschen Militärstaates bewilligen, wenn sie dafür genügend »Volksfreiheiten« als Gegenleistung bekäme. Eine
Kompensationspolitik »Kanonen für Volksrechte« verurteilte Rosa Luxemburg als Fleischwerdung der revisionistischen Auffassung
vom friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus und als Preisgabe bewährter revolutionärer Grundsätze und Traditionen antimilitaristischen
Kampfes. Bei solchem politischem Spiel auf dem Parkett des bürgerlichen Parlaments verliere die Sozialdemokratie doppelt:
die Grundsätze und den praktischen Erfolg. Kurz vor dem Parteitag hatte Rosa Luxemburg gewarnt: »Fangen wir aber an, im Sinne
des Opportunismus ›dem Möglichen‹ unbekümmert um die Prinzipien und auf dem Wege staatsmännischer Tauschgeschäfte nachzujagen,
so gelangen wir bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und zugleich die Flinte verloren hat. |101| Nicht vor Fremdwörtern: Opportunismus, Possibilismus, graut es
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