Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
einen subjektiven Denkfehler, der aus
den Lebensbedingungen in England erwachsen sei. Er hoffte, Bernstein revidiere seine Position, wenn er den politischen Verhältnissen
der Emigration entrissen würde und durch die Übersiedelung nach Zürich oder Wien wieder in engeren Kontakt mit der deutschen
sozialdemokratischen Bewegung käme.
|105| Eine weitere Diskussion wurde zunächst dadurch abgebremst, daß August Bebel und Karl Kautsky Bernstein aufforderten, seine
Ansichten kurz und eindeutig in einer Broschüre zusammenzufassen. Wenn Bernstein allerdings nicht von seiner Meinung abrücke,
schrieb Bebel am 4. November 1898 an Victor Adler, »dann hält kein Gott und kein Teufel die Scheidung auf. Mit der Infragestellung
der Grundsätze ist auch die Taktik in Frage gestellt, ist unsere Stellung als Sozialdemokraten in Frage gestellt, handelt
es sich um Sein oder Nichtsein als Partei.« 82
Die bürgerliche Presse beobachtete aufmerksam die Vorgänge in der Sozialdemokratie. Liberale Zeitungen hofften auf eine »Mauserung«
zur Reformpartei. Im Unterschied dazu spottete die konservative »Neue Preußische Zeitung« zutreffend: »… die einen entpuppten
sich durchaus als ›zielbewußte‹, d. h., sie verlangten, daß die Sozialdemokratie, ihrem ursprünglichen Programm getreu, als
Partei des ›Klassenkampfes‹, ihre Fahne überall offen und unentwegt entrolle; die anderen hielten es als ›vorsichtige Schleicher‹
für besser, diese Fahne einstweilen in die Tasche zu stecken und sich den praktischen Aufgaben der Gegenwart zu widmen. Unter
den ersteren standen die Abg. Stadthagen, Ulrich, sowie Frau Klara Zetkin und Fräulein Rosa Luxemburg voran. Unter den anderen
der als ›Kanonen-Heine‹ bezeichnete neue Abgeordnete für Berlin, während Bebel sich zu einem mehr vermittelnden Standpunkt
neigte. Offenbar sagte ihm die Erörterung nur wenig zu …« 83 .
In »Nachbetrachtungen zum Parteitag« stellte Rosa Luxemburg in der »Sächsischen Arbeiter-Zeitung« vom 12. Oktober 1898 fest:
»Die Stimmung des Parteitages war nach der Debatte so erdrückend für die wenigen Vertreter des Opportunismus, daß sie, die
im Anfang eine ›gute Stimmung‹ konstatieren zu können glaubten – siehe die erste Rede Vollmars –, zum Schlusse es aufgeben
mußten, ihren Standpunkt in der allgemeinen Debatte überhaupt noch zu verteidigen. Insofern haben wir allen Grund, mit dem
Ergebnis der Diskussion zufrieden zu sein. Allein auch einige kritische Bemerkungen möchten wir hinzufügen, und zwar aus Anlaß
des Verhaltens unserer ›Alten‹ in dieser Debatte. Wir hätten nämlich viel lieber gesehen, daß die Veteranen der Partei gleich
im Anfang der Debatte ins |106| Gefecht getreten wären. […] Wenn die Debatte trotzdem eingeleitet wurde, so geschah es eben nicht dank, sondern trotz dem
Verhalten der Parteiführer.« 84 Die Alten hätten die Stimmung der Partei falsch eingeschätzt und wären der schädlichen Richtung zu lasch entgegengetreten.
Fürchte mich überhaupt vor nichts
Seit sich Rosa Luxemburg am 25. September für die Redakteurtätigkeit in der »Sächsischen Arbeiter-Zeitung« entschieden hatte,
stand diese Arbeit im Mittelpunkt. Auch auf diesem Feld wollte sie sich bewähren.
Dresden sei ein herrliches Städtchen, schwärmte sie im Brief an ihren Lebensgefährten in der Schweiz, »dort wird es gewiß
besser als in Berlin sein, obwohl, was angesichts dieses ganzen Breis mit
unseren
(persönlichen) weiteren Plänen geschehen wird – Gott soll mich strafen, wenn ich etwas weiß!« 85
Doch obgleich ihr Franz Mehring erklärte, daß sie das Blatt sehr gut redigiere, viel besser als Parvus, kam es in der Redaktion
und mit der Pressekommission zu einem Konflikt, an dem Kautsky auch indirekt beteiligt war. Mit Karl und Luise Kautsky war
sie vor dem Parteitag ins Gespräch gekommen. Beide waren zu ihr sehr höflich gewesen, doch ausrichten ließe sich mit ihnen
nichts, berichtete sie Jogiches. Gegenüber Boris Kritschewski meinte sie, Kautsky sei ein ganzer Bismarck, zumindest bilde
er sich das ein und möchte die Rolle eines internationalen sozialistischen Diplomaten spielen. 86 In der Bernsteindebatte handelte er denn auch so, seinem Freund Bernstein dagegen schrieb er unverhohlen: »Der Luxemburg,
dem widerlichen Ding, paßt der Waffenstillstand bis zum Erscheinen Deiner Broschüre nicht, sie bringt jeden Tag einen Nadelstich
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