Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
|128| Bernstein veranlaßt, seinerseits auch formell als das zu erscheinen, was er ist: ein kleinbürgerlich-demokratischer Fortschrittler.« 151 Der Parteitag in Hannover hatte sich in einer Lebensfrage der sozialdemokratischen Bewegung zu entscheiden.
Ich habe die Absicht und Lust, positiv zu schieben
Rosa Luxemburgs Schrift »Sozialreform oder Revolution?« fand in der deutschen Sozialdemokratie und in der internationalen
Arbeiterbewegung großen Anklang und viel Aufmerksamkeit. Manche Referenten stützten sich in Vorträgen direkt darauf. Clara
Zetkin zitierte in ihrem Vortrag »Wie stellen sich die Parteigenossen und Genossinnen Berlins zur Bernsteinschen Schrift?«
Ausführungen Rosa Luxemburgs. 152
Rosa Luxemburg und Clara Zetkin stimmten in ihren Ansichten über die Parteisituation und neue Aufgaben völlig überein. Sie
verkehrten zunehmend herzlicher miteinander. Clara Zetkin wohnte fortan bei Rosa Luxemburg, wenn sie sich in Berlin aufhielt.
Beide überlegten, wie auf dem Parteitag im Herbst die Auseinandersetzung mit Bernsteins Auffassungen weitergeführt werden
müßte. August Bebel wollte das Hauptreferat übernehmen. Leo Jogiches empfahl Rosa Luxemburg, sich ebenfalls um ein Referat
zu bemühen. Doch ihr war klar, daß man sie nicht mit einer solchen Aufgabe betrauen würde. Tausende und aber Tausende Gelegenheiten
würde es noch geben, bei denen sie ihren Geist, ihre Kraft und ihre Unersetzlichkeit beweisen könnte. Rosa Luxemburg beabsichtigte,
»positiv zu schieben, nicht Personen, sondern die Bewegung in ihrer Gesamtheit, unsere ganze positive Arbeit zu revidieren,
die Agitation, die Praxis, neue Wege aufzuzeigen (sofern sich welche finden lassen, woran ich nicht zweifle), den
Schlendrian
zu bekämpfen etc., mit einem Wort, ein ständiger Antrieb der Bewegung zu sein.« 153 Sie war von dem Drang beseelt, alles anders, alles besser zu machen, sich nicht an Herkömmlichem festzuhalten, nicht in Orthodoxie
zu erstarren.
Zunächst wollte sie sich etwas Ruhe gönnen. Nach einem häßlichen Streit mit der Wirtin mußte sie aber sofort aus der |129| Wohnung ausziehen. Vorübergehend fand sie in der Lützow-Str. 51 ein Zimmer. Über Pfingsten floh sie zu Schoenlanks nach Leipzig.
Dort ergötzte sie sich an ausgedehnten Spaziergängen, besuchte Theater und Museen. Im Juni reiste sie zu Leo Jogiches in die
Ferien, Mitte Juli hielt sie sich bei Zetkins in Stuttgart auf. Und endlich begleitete sie die folgenden vier Wochen ihren
Vater zur Kur, der seit dem Tod der Mutter nervlich und körperlich sehr geschwächt war. Sie trafen sich am 23. Juli 1899 in
Breslau und fuhren bis Mitte August zunächst nach Carlsruhe in Oberschlesien und dann nach Gräfenberg bei Freiwaldau in Österreich.
In diesen Wochen fühlte sie sich vom entsetzlichen Gesundheitszustand ihres Vaters so betroffen, von der Betreuung so erschöpft,
von der Geldknappheit so bedrückt, daß ihr hundeelend wurde. Erst viele Jahre später begriff sie, als sie Hans Diefenbach
dringend zum Besuch seines erkrankten Vaters riet: »Kann man schon nichts helfen und tun, so ist es wenigstens eine Erleichterung,
in seiner Nähe zu sein; Ihre bloße Anwesenheit ist doch für den Ärmsten eine Wohltat, und nachher macht man sich bittere Vorwürfe
für jede Stunde, die man den alten Leuten entzogen hatte.« 154
Anfang August 1899 stöhnte sie gegenüber ihrem Geliebten über die aufreibende Pflege ihres Vaters. Er habe ihr, die sie kaum
ein Stündchen für sich allein besaß, in all seinen Briefen »nicht ein Wörtchen mit Gefühl« geschrieben. 155
Rosa Luxemburg atmete regelrecht auf, als sie am 15. August 1899 wieder in Berlin war. Sie mietete sich in Friedenau, Hauffstr.
4 ein neues Zimmer und stürzte sich in die Parteitagsvorbereitungen, die von den »Alten« im Vorstand etwas argwöhnisch beobachtet
wurden. Ignatz Auer schrieb z. B. an Eduard Bernstein, daß sich Bruno Schoenlank ausschließlich auf die Luxemburg stütze.
»Diese gescheite Giftnudel wird auch nach Hannover kommen. Ich habe Respekt vor ihr und schätze sie viel höher als wie Parvus.
Sie aber haßt mich aus tiefstem Herzensgrund. Übrigens teile ich dieses Schicksal seit Stuttgart […] bei allen Parteiweibern.
Es geht aber auch so.« 156
Am 29. August 1899 stand Rosa Luxemburg am Podium im Pantheon in Leipzig vor etwa 1200 Menschen und sprach 1½ Stunden, oftmals
von Beifall unterbrochen, so überzeugend, daß die folgende
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