Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
über die Grundanschauungen und die Taktik der Partei unbedingt einen Passus zur Freiheit
der Kritik einzuarbeiten, Bebel aber lehnte ab, weil er dieses Anliegen in seinem Referat vertreten und Rosa Luxemburg eine
klare Antwort geben wollte.
|132| Der Hannoversche Parteitag beriet vom 9. bis 17. Oktober 1899. Es lagen mehr als zehn Anträge und Resolutionsvorschläge vor,
die sich vor allem gegen Eduard Bernsteins und Max Schippels Auffassungen verwahrten. August Bebel begann sein sechsstündiges
Referat mit dem Gedanken, daß das Recht der freien Kritik ein Postulat der Partei sei; denn es gehöre zu ihrem Wesen, daß
sie ihre Grundanschauungen über die kapitalistische Gesellschaft ständig kritisiere, wobei er auf die Programmänderung verwies,
die durch die Widerlegung des Lassalleanismus durch den Marxismus erfolgt war. Bebel wollte also unter der Losung »Freiheit
der Kritik« das Ersetzen alter Ideen durch neue verstanden wissen. Wichtig sei, die Arbeiterklasse vorwärtszuweisen. Er betrachtete
die »Freiheit der Kritik als Lebensprinzip der Partei« 164 . Die »freie Forschung auf streng wissenschaftlichem Gebiet, wie die materialistische Geschichtsauffassung, die Dialektik,
die Werttheorie u. dgl.« sei aus der Parteitagsdiskussion bewußt herausgelassen worden, betonte er im Schlußwort. Mit der
taktischen Stellung, die durch seine Resolution festgelegt werde, habe die freie wissenschaftliche Forschung nichts zu tun. 165
Rosa Luxemburg war in bezug auf Bernsteins erkenntnistheoretische Kritik an der materialistischen Dialektik und dessen Hinwendung
zum Neukantianismus anderer Meinung als Bebel. In ihrer Schrift »Sozialreform oder Revolution?« hatte sie auf die gegenseitige
Bedingtheit von proletarischer Politik und marxistischer Philosophie und Ökonomie hingewiesen und war gegen die Pluralität
der Weltanschauungen in der deutschen Sozialdemokratie aufgetreten. Bernstein wolle nichts von »Parteiwissenschaft« oder richtiger
»Klassenwissenschaft« hören. Er behaupte, eine allgemeinmenschliche, abstrakte Wissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte
Moral zu vertreten. »Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht, die diametral entgegengesetzte Interessen, Bestrebungen
und Auffassungen haben, so ist eine allgemeinmenschliche Wissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eine
abstrakte Moral vorläufig eine Phantasie, eine Selbsttäuschung. Was Bernstein für seine allgemeinmenschliche Wissenschaft,
Demokratie und Moral hält, ist bloß die herrschende, d. h. die bürgerliche Wissenschaft, die bürgerliche Demokratie, die |133| bürgerliche Moral.« 166 Bernsteins Auffassung vom friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus beruhe auf einer unmarxistischen Evolutionstheorie,
die darauf hinausliefe, unter scheinbarer weltanschaulicher Neutralität die Arbeiterklasse der bürgerlichen Spontaneität unterzuordnen.
Rosa Luxemburg charakterisierte die materialistische Dialektik als die »spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten
Proletariats«, als seine »geistige Waffe«. 167 Die materialistische Dialektik stelle die Grundlage für ein revolutionäres Verhältnis zur Praxis dar. Indem Marx von den
Widersprüchen der ökonomischen Verhältnisse ausging, konnte er dem Proletariat seine historische Mission erschließen, nicht
als Utopie, sondern als ein geschichtlich notwendiges Resultat der materiellen Selbstbewegung der Gesellschaft. Die materialistische
Dialektik sei somit nicht klassenindifferent, Gegenstand »freier Forschung«, sondern nur vom proletarischen Klassenstandpunkt
aus begreifbar, zu verteidigen und anzuwenden. Ihre Schlußfolgerung war: »Indem Bernstein der Dialektik Valet sagt und die
Gedankenschaukel des Einerseits-Andererseits, Zwar-Aber, Obgleich-Dennoch, Mehr-Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig
in die historisch bedingte Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, die das getreue Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins
und ihres politischen Tuns ist.« 168 Für Revisionisten wie ihn könne es nur eine Freiheit geben,
»die Freiheit der Zugehörigkeit oder der Nichtzugehörigkeit zu unserer Partei«
169
.
Im Unterschied dazu hatte Karl Kautsky in der »Neuen Zeit« am Vorabend des Parteitages geäußert: »Man muß es in der Regel
jedem Parteimitglied selbst überlassen, zu entscheiden, ob er noch auf dem Boden der Partei steht oder nicht. Mit dem Ausschluß
geht man
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