Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
bloß gegen Elemente vor, welche die Partei schädigen, wegen rein sachlicher Kritik ist noch nie jemand aus der Sozialdemokratie
ausgeschlossen worden, die stets auf die Freiheit der Diskussion den höchsten Wert gelegt hat. Selbst wenn Bernstein nicht
so große Verdienste um unsere Sache sich erworben hätte und wenn er nicht wegen seiner Parteitätigkeit im Exil säße, würde
seine Ausschließung nicht in Betracht kommen.« 170
Am dritten Verhandlungstag, am 11. Oktober, griff Rosa Luxemburg |134| erstmals in die Parteitagsdebatte über die sozialdemokratischen Grundanschauungen ein. Sie stellte sich voll und ganz hinter
die Rede Bebels. Nur in wenigen Punkten ergänzte sie dessen Ausführungen. Sie erklärte: »Die Genossen, die glauben, in Ruhe,
ohne Kataklysmus, die Gesellschaft in den Sozialismus hinüberleiten zu können, stehen durchaus nicht auf historischem Boden.
Wir brauchen durchaus nicht in der Revolution Heugabeln und Blutvergießen zu verstehen. Eine Revolution kann auch in kulturellen
Formen verlaufen, und wenn je eine dazu Aussicht hatte, so ist es gerade die proletarische; denn wir sind die letzten, die
zu Gewaltmitteln greifen, die eine brutale Revolution herbeiwünschen könnten. Aber solche Dinge hängen nicht von uns ab, sondern
von unseren Gegnern (›Sehr richtig!‹), und die Frage der Form, in der wir zur Herrschaft gelangen, müssen wir vollkommen ausscheiden;
das sind Fragen der Umstände, über die wir heute nicht prophezeien können.« 171
Auf dem Parteitag stand auch die Frage des Militarismus zur Debatte. Schippel legte noch einmal seine Ansichten dar. Rosa
Luxemburg nahm dazu ebenfalls Stellung und bekräftigte ihre Position, die sie in der »Leipziger Volkszeitung« dargelegt hatte.
Insgesamt trat Rosa Luxemburg auf dem Parteitag sechsmal ans Rednerpult.
Die von Bebel vorgeschlagene Resolution fußte auf dem Erfurter Programm und wies die Revisionsvorstöße Bernsteins, Schippels
und ihrer Anhänger zurück. Sie wurde angenommen, auch alle prominenten Revisionisten stimmten ihr zu. Selbst Bernstein teilte
Auer mit, er stimme mit dem »bei solchen Dingen üblichen Körnchen Salz« für die Resolution. 172
Unter dem Begriff der Eroberung der politischen Macht ließen sich durchaus die unterschiedlichen Vorstellungen über das Verhältnis
von Reform und Revolution vereinen. Außerdem lehnte niemand diese Programmformulierung ab. Während Rosa Luxemburg zu Beginn
ihrer Auseinandersetzung mit Bernstein die Art und Weise, in der das Proletariat seine Herrschaft staatlich organisieren sollte,
auch nicht näher bestimmte, skizzierte sie 1899 die Diktatur des Proletariats als Ziel revolutionärer Machteroberung zur Überwindung
des Kapitalismus. Als sich Bernstein auf den Ausspruch von Marx berief, daß man wahrscheinlich am wohlfeilsten wegkäme, |135| wenn man »die ganze Bande auskaufen« könnte 173 , entgegnete sie ihm: »Was Marx somit hier als möglich in Erwägung zog, ist die
friedliche Ausübung der proletarischen Diktatur
und nicht die Ersetzung der Diktatur durch kapitalistische Sozialreformen.« 174
Mit diesem Gedanken hob sich Rosa Luxemburg von den in der deutschen Sozialdemokratie gängigen Ansichten über die Eroberung
der politischen Macht ab. Wilhelm Liebknecht hatte die Diktatur des Proletariats als objektive historische Gesetzmäßigkeit
offen abgelehnt und wollte sie bestenfalls als Kriegsmaßregel gelten lassen. 175 Karl Kautsky plädierte 1898/ 1899 dafür, die Entscheidung über die proletarische Diktatur der Zukunft zu überlassen. 176
Organisatorische Maßnahmen wurden nicht getroffen. Rosa Luxemburg, die vorher den eventuellen Ausschluß Bernsteins und Schippels
in die Diskussion gebracht hatte, meinte danach wie die Mehrheit der Delegierten, es genüge, die Bernsteinsche Richtung in
die Schranken gewiesen zu haben, denn diese käme in Deutschland nie in die Lage, »die Arbeiterbewegung nach eigenen Theorien
zu modeln und so ihre Tendenzen in die Tat umzusetzen« 177 . Ähnlich wie Karl Kautsky dachte sie, die politischen Verhältnisse und die theoretische Geschlossenheit der Partei stünden
einem praktischen Bernsteinianertum entgegen. Noch bei etwas späteren Vergleichen mit der Situation in der französischen Bewegung
hob Rosa Luxemburg hervor, »daß die trennenden Momente bis jetzt lediglich in der Presse, in literarischen Erzeugnissen und
nirgends
in der Praxis
der Partei zum Ausdruck gekommen
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