Rosa
stand auf einem kleinen Schreibtisch am Fußende des Bettes. Sonst lag nichts darauf, auch kein Adressbuch. Ein zerknüllter Umschlag im Weidenpapierkorb daneben. Ich strich ihn glatt. Eine schräge, ziemlich krakelige Handschrift. Victor de Vries. Der Brief war natürlich nicht mehr drin. Ich steckte den Umschlag ein.
Ich nahm den Hörer vom Apparat und drückte auf Wahlwiederholung. Es läutete dreimal.
»Betty de Vries.«
»Betty, ich bin’s, Max. Dein Bruder ist seit Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen, und zu Hause ist er auch nicht. Wo kann ich ihn erreichen?«
»Woher soll ich das wissen? Wo bist du denn?«
Ich zögerte. Was hast du im Zimmer meines Bruders zu suchen? Ich zog die Schreibtischschublade auf. Ein Stapel Umschläge, ein Schulheft, eine kleine Pappschachtel ohne Deckel mit ein paar Kugelschreibern, Briefmarken, Büroklammern, ein verschlissener kleiner Umschlag mit Inhalt. »Seine Vermieterin hat ihn seit Mittwoch nicht mehr gesehen«, sagte ich. »Aber er hat bei dir angerufen, Dienstagnacht oder Mittwochmorgen.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe die Wahlwiederholung gedrückt.«
Sie schwieg einen Augenblick. Ich schüttete den Inhalt des Umschlags auf dem Tisch aus. Eine Telefonkarte, die inzwischen Sammlerwert hatte, eine noch ältere Kopie von Teil III der Zulassung für den Nissan, offensichtlich zweiter Hand, weil als Vorbesitzer Johanson – Maler- und Lackierbetriebe GmbH in Ramsdonkveer eingetragen war. Zwei Passfotos in einem Mäppchen für vier Stück, von Foto De Bock, und eine drei Jahre alte Museumseintrittskarte. Ein Barkeeper mit Vorstrafenregister, der sich für Rembrandt und van Gogh interessierte?
»Was machst du in seinem Zimmer?«
»Die Vermieterin und ich haben zur Sicherheit mal kurz reingeschaut, hätte ja sein können, dass er krank ist, schließlich weiß man ja nie, oder? Aber hier ist er nicht.« Ich betrachtete die beiden identischen Fotos, die einen Mann mit jugendlich-glattem, schmalem Gesicht, bleicher Haut, dunklen Augen und dunklem Haar zeigten. Er sah aus wie dreiundzwanzig, eher jünger. Bestimmt stammten die Bilder aus der Zeit vor dem Unfall.
»Oh.« Die Erwähnung der Vermieterin schien sie zu beruhigen. »Am Mittwochmorgen hat er mich angerufen«, bestätigte sie dann.
Ich nahm eines der Fotos und steckte die anderen Sachen zurück in den Umschlag. »Was wollte er?«
»Was er wollte? Wie meinst du das?«
Ich nahm das Heft und blätterte es mit der freien Hand durch. Drei Seiten mit Zahlen in Spalten untereinander. »Ich versuche nur, zu helfen, Betty«, sagte ich. »Machst du dir denn gar keine Sorgen? Oder verschwindet er öfter für eine Weile?«
»Nein, na ja, eigentlich weiß ich es nicht. So oft sehe ich ihn nicht.«
»Warum hat er dich angerufen?«
Ich hörte, wie sie zögerte. »Er wollte die Telefonnummer von Cor haben.«
»Wer ist Cor?«
»Mein Exmann. Aber ich konnte ihm nicht helfen.«
Die Zahlen variierten kaum, aber ich erkannte die Ziffern davor als Daten. Offenbar hatte Victor, wie alle Herztransplantierten, täglich seinen Blutdruck gemessen und notiert. Ich schloss das Heft. »Ist Cor der mit dem wilden Sex?«
»Nein, natürlich nicht. Shit.«
»Okay, tut mir leid. Wo wohnt Cor?«
»Keine Ahnung.«
»Jetzt komm schon. Du weißt nicht, wo dein Exmann wohnt?«
»Er, äh …« Sie hörte sich unsicher an. »Er ist gerade erst umgezogen.«
Eine Familie von Umzüglern. »Wie heißt er mit Nachnamen?«
»Cor van Nool, aber Victor wirst du dort nicht finden. Er hält sich lieber von ihm fern.«
»Warum?«
Wieder zögerte sie. »Sie können sich nicht leiden.«
»Warum hat Victor dann nach ihm gefragt?«
»Ich mische mich da nicht ein.«
»In was?«
»Das geht mich nichts an.«
Ich beließ es dabei. »Könnte er bei deiner Mutter sein?«
»Das wüsste ich, ich habe gerade mit ihr telefoniert. Sie beklagt sich immer darüber, dass er sie nie besucht.« Ihre Stimme wurde weicher. »Rufst du mich an, wenn du ihn findest?«
»Mache ich, aber wahrscheinlich wirst du eher von ihm hören als ich. Ich gebe dir meine Nummer, okay?«
Sie schrieb sich die Nummer auf und sagte: »Vielen Dank für deine ganze Mühe. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann nochmal.«
Das Telefon wackelte ein wenig, als ich den Hörer auflegte und meine Hand darauf liegen ließ. Ich hob den Apparat hoch und fand ein halb aufgebrauchtes gelbes Post-it-Blöckchen darunter.
Ich blätterte es durch. Es war unbenutzt, aber als ich es dicht vor
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