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Rosa

Rosa

Titel: Rosa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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die Augen hielt und zum Licht kippte, erkannte ich undeutliche Abdrücke. Ich zog die Schublade auf, fand einen Bleistift in der Pappschachtel und fuhr damit leicht über die Vertiefungen. Otterlo. Die Zahl 26 und davor Wehmalaan oder Werlnabaan oder so ähnlich. Gab es in Otterlo eine Wehrmachtlaan?
    Ich legte das Schulheft zurück und schloss die Schublade. Ich schaute auf die Uhr. Kurz vor sechs. Die Zeit verging wie im Flug, und die Vermieterin fragte sich wahrscheinlich allmählich, ob ich den Fernseher abmontierte.
    Ich ging neben dem Bett auf die Knie und schaute darunter. Bewohner möblierter Zimmer verstauen oft ihre leeren Koffer unter dem Bett. Ich zog das graue Exemplar hervor, drückte auf die Verschlüsse und öffnete es. Der Koffer war leer. Ich fuhr mit der Hand in das Seitenfach des verschlissenen Polyesterfutters im Deckel und berührte einen Gegenstand aus dickem Papier oder dünner Pappe. Ich fasste ihn mit zwei Fingern und zog ihn heraus. Ein Schwarz-Weiß-Foto im Ansichtskartenformat.
    Entgeistert starrte ich es an.

 
     

9
    Ich wusste nie so recht, wie ich sie anreden sollte. Mutter? Auke?
    »Hallo, ich bin’s, Max, ist Nel in der Nähe?«
    »Ja, Augenblick. Und, kommst du auch?« Ich hörte sie rufen. »Lia! Für dich!« Und wieder näher am Hörer: »Da ist sie.«
    »Hallo Schatz«, sagte Nel in mein Ohr. »Wo bist du?«
    Manchmal vergesse ich, dass sie dort Lia genannt wird. »Ich fahre gerade durch die ehemalige Zuiderzee.«
    »Du kommst also doch?«
    »Na klar. Ich rufe eigentlich an, weil du vielleicht noch etwas erledigen könntest. Arbeitet Lily samstags oder hat sie Zugang zu den Computern?«
    »Was möchtest du wissen?«
    »Ich habe einen Namen, Cor van Nool, aus Amsterdam, etwa dreißig Jahre alt. Ich vermute, dass er ein Vorstrafenregister hat. Er ist der Exmann von Betty de Vries, der Schwester von unserem Victor.«
    »Du hast Victor also nicht gefunden?«
    »Victor hat ein Zimmer in der Nähe des Messegeländes, aber da wurde er seit letzten Mittwoch nicht mehr gesehen, und an seinem Arbeitsplatz auch nicht. Ich glaube, er hält sich bei diesem Cor van Nool auf oder er ist vor ihm auf der Flucht.«
    »Weil Cor vielleicht auch vorbestraft ist?«
    »Am Dienstagabend hat sich ein Mann nach Victor erkundigt, aber er war nicht zu Hause. Der Mann hinterließ einen Brief. Victor hat am Mittwoch in aller Herrgottsfrühe das Haus verlassen. Sein Bett sah aus, als habe er gar nicht darin geschlafen. Ich glaube, dass Cor van Nool dieser Besucher war und wir über ihn Victor auf die Spur kommen können.«
    »Ich rufe Lily an. Sonst noch was?«
    »Nein, das war’s so ungefähr.«
    Nel genügt der Tonfall meiner Stimme. »Was meinst du mit ›so ungefähr‹?«
    »Ich habe Victors Zimmer durchsucht«, antwortete ich. »Jetzt halt dich fest. Er besitzt einen Abzug des Fotos, das bei Arin Reider hängt.«
    »Ein Foto von Rosa?«
    »Was hältst du davon?«
    CyberNel schwieg einen Augenblick. »So, so«, sagte sie dann. »Du lieber Himmel.« Ich konnte ihr Gehirn förmlich arbeiten hören. »An der Wand?«
    »Nein, versteckt in einem Koffer unter seinem Bett.«
    »Vielleicht bedeutet das nur, dass er herausgefunden hat, wem er sein neues Herz zu verdanken hat.«
    »Ja, aber wie kommt er an das Foto?«
    »Tja, das ist die Frage. Nimm dich lieber ein bisschen in Acht.«
    »Vor Victor?« Ich lachte. »Der kriegt doch schon einen Herzinfarkt, wenn ich ›Buh‹ rufe.« Ich legte auf.
    Die Autobahn war frei, ein später Juninachmittag, Segelboote trieben zu beiden Seiten der Ketelbrug. Im Frühsommer ist der Norden am schönsten, das Licht malerisch wie auf den Gemälden niederländischer Meister.
     
    Abends mit Kaffee und einem alten Jenever und Großvater Roelof im Garten, innerhalb des alten Feerweerder Rings, und eine Nacht Groninger Folklore in Nels französischem Bett, das war das Angenehme. Danach wurde es unweigerlich betulicher, Familienfrühstück mit weich gekochten Eiern, Groninger Stuten und Katenspeck, alle zusammen in die Kirche, weil Hanna ihre Großmutter im Chor sehen und hören sollte, ein Spaziergang durch Feerweerd und Umgebung, das Gurren der Großeltern mit Hanna, errötendes Gekicher von Corrie. Hanna war ein Prachtkind, sie genoss alles außerordentlich, das schöne Wetter, einen Schwan unter der Brücke, Opas Grinsen, einen Wurm im Garten. Kinder konzentrieren sich voll und ganz auf jede Kleinigkeit, ihr Gehirn ist noch nicht voll gestopft mit Erinnerungen, jedes Wort

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