Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
Wir stellten uns vor, dass sie wie die Showgirls in Las Vegas in einem Kostüm Cancan tanzte. Warum wir das dachten? Keine Ahnung.
Ich wusste nur, dass Momma abends zu arbeiten anfing und uns Zettel aus rosa Papier hinterließ, auf denen stand, was wir tun und lassen sollten, während sie fort war. Janie, Cecilia und ich passten auf Henry auf, wenn Momma ungefähr zwei Stunden nach unserer Rückkehr aus der Schule aufbrach. An ihrer neuen Arbeit gefiel uns, dass Momma nach der Schicht immer Essen mitbrachte, das wir am nächsten Abend vorgesetzt bekamen.
Außerdem war endlich Geld in der Keksdose, von dem wir Milch und Eier kaufen konnten. Für ein Kind, das wochenlang nur Milchpulver oder Wasser getrunken hatte, gab es nichts Besseres als den Geschmack von Kuhmilch. Das Wasser und der Strom waren nicht länger abgestellt, unser Telefon funktionierte zuverlässig.
Wir warfen unsere alten Schuhe fort, die von Isolierband zusammengehalten wurden, und Momma kaufte uns neue Tennisschuhe. Meine waren rosa, das weiß ich noch.
In der Schule konnten wir immer noch umsonst essen, doch Momma erlaubte uns freitags, unten an der Straße ein Eis zu holen. Wir waren völlig aus dem Häuschen, überglücklich.
Es dauerte nicht allzu lange, bis wir die Wahrheit erfuhren.
Ein Mädchen in der Schule erzählte uns, ihr älterer Bruder und seine Freunde hätte unsere Momma gesehen, »splitterfasernackt«.
»Mein Bruder meint, deine Mutter wär sexy. Sexy Hexy. Er meint, sie hätte kleine Brüste, aber sie würden nicht hängen. Sie gehen jetzt immer montags, dienstags und donnerstags mit allen Freunden hin, um sie sich anzugucken. Wie findest du das, dass deine Mutter eine Stripperin ist?«
Ich schlug das Mädchen so heftig, dass es nach Hause musste, weil die Nase einfach nicht aufhören wollte zu bluten. Sie sagte nichts mehr über unsere Mutter, aber ich wurde fünf Tage von der Schule suspendiert. Wir wussten, dass sie log.
Als mehrere Mädchen mit Zöpfen und Collegeschuhen zu mir und Cecilia kamen und sagten, unsere Mutter sei eine Nutte, vermöbelten wir sie alle. Zwei gegen fünf. Sie sagten nichts mehr über unsere Mutter.
Als ein älterer Junge mit schiefen, vorstehenden Zähnen zu uns sagte, sein Vater fände, unsere Mutter hätte einen »so festen Arsch, dass sie damit Nüsse knacken kann«, kümmerten Cecilia und ich uns um sein Zahnproblem, und er sagte nichts mehr über unsere Mutter.
Das ersparte uns das öffentliche Gehänsel in der Schule, doch gegen das Gelächter und Gekicher hinter unserem Rücken konnten wir nichts ausrichten.
Aber Momma war keine Stripperin. Das wussten wir ganz genau. Sie war Tänzerin – mit Federn, Pailletten und allem Drum und Dran. Wir waren uns so sicher, dass wir neben dem Striplokal in der Stadt warteten, in dem sie auf gar keinen Fall arbeiten konnte, weil sie ja keine Stripperin war.
Wir warteten und warteten und schreckten ungläubig hoch, als wir das Husten und Prusten unseres alten Autos hörten, in dem Momma angefahren kam. Sie parkte hinter dem Gebäude und ging in einem alten Sweatshirt unseres Vaters mit dem Aufdruck »UNITED STATES ARMY« durch einen Seiteneingang hinein, das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Entsetzt lehnten Cecilia, Janie und ich uns gegen die Mauer. Zu entsetzt, um zu weinen. Zu erschüttert, um uns zu bewegen. Zu gedemütigt, um zu atmen. Nach einer Viertelstunde war der Parkplatz gefüllt – lärmende, ausgelassene Männer stiegen aus ihren Autos.
Mit gesenkten Köpfen trotteten wir nach Hause, vermieden die Straßen der Stadt, vermieden, uns anzusehen, versuchten der Wahrheit auszuweichen, während wir doch wussten, dass die Wahrheit glänzend klar und unbestreitbar war: Unsere Mutter war eine Stripperin.
Am Abend blieben wir auf und erwarteten Momma im Licht einer Lampe in unserem schäbigen, bräunlichen Wohnzimmer, zu dritt nebeneinander auf dem Sofa, die Füße auf dem schmutzigen Teppich.
»Momma, bist du eine Stripperin?«, fragte Janie leise wie eine verängstigte Maus.
Momma blieb in der Tür stehen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und war blass vor Erschöpfung. Einer der Essensbehälter, die sie in den Händen hielt, fiel auf den Boden. Hähnchenflügel rutschten heraus. Das weiß ich bis heute. An die Hähnchenflügel kann ich mich noch gut erinnern. Bis heute kann sie keine von uns essen.
»Wie könnt ihr es wagen«, sagte sie mit so leiser Stimme, dass wir sie kaum hörten.
Janie zog den Kopf ein, Cecilia
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