Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
angerichtet. Mary Rose fand es seltsam, dass sie ausgeschlossen wurden. Aber sie stellte keine Fragen, nachdem Tante Lillian sie angewiesen hatte, ihre Meinung für sich zu behalten.
Beim Dinner saß sie zwischen Barbara und Lillian, gegenüber von Harrison. Die Mahlzeit wurde wie eine heilige Handlung zelebriert. Man unterhielt sich im Flüsterton, und die Lakaien reichten kostbare Silberplatten mit erlesenen Speisen herum.
Noch bevor Mary Rose zu essen anfing, beging sie ihren ersten Fehler. Sie erkundigte sich, wer das Tischgebet sprechen würde, und der Vater bat sie, diese Aufgabe zu übernehmen.
Schon nach wenigen Worten wurde sie unterbrochen. »Großer Gott, William, sie wurde katholisch erzogen!«, kreischte Lillian. »O William, was sollen wir nur machen?«
»Armes Kind!«, klagte Barbara. »Armes, armes Kind!«
»Aber ich bin keine Katholikin«, erklärte Mary Rose. »Ich habe noch nicht entschieden, welcher Religion ich angehören werde.«
»Du hast dich noch nicht entschieden?«, rief ihr Vater entsetzt. »Victoria, seit vielen Jahren sind die Elliotts treue Anhänger der anglikanischen Kirche. Und du bist eine Elliott.«
»Kann ich nicht gleichzeitig eine Elliott und eine Katholikin sein. Oder eine Jüdin …«
Lillians schriller Schreckensschrei ließ Mary Rose verstummen. Offenbar hatte sie wieder einmal zu freimütig ihre Meinung geäußert. Das brachte die bedauernswerte Frau dermaßen aus der Fassung, dass sie ein Wasserglas umstieß.
»Wirklich, ich wollte dich nicht ärgern«, beteuerte Mary Rose. »Meine Brüder und ich haben beschlossen, die verschiedenen Religionen zu studieren, bevor wir uns auf eine festlegen.«
»Da haben wir wohl eine ganze Menge zu tun, Lillian«, stöhnte Barbara, und ihre Schwägerin nickte zustimmend.
»Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll.« Dann wandte sie sich zu ihrer Nichte. »Könnten deine Mutter oder deine Großmutter dich so reden hören, würden sie vor Kummer sterben.«
»Sie sind bereits tot!«, mischte sich Elliott ärgerlich ein. »Und ich finde es bewundernswert, dass Victoria sich über andere Religionen informieren will. Aber ich bin natürlich sicher, dass sie letzten Endes der anglikanischen Kirche beitreten will.«
Mary Rose widersprach ihm nicht, weil sie eine weitere Diskussion vermeiden wollte. Aber Harrison ärgerte sich über die Worte Seiner Lordschaft. »Das kann sie doch selbst bestimmen, nicht wahr?«
Elliott zuckte die Achseln und schnitt ein weniger heikles Thema an, als er Lillians hochrote Wangen musterte. Für einen Abend hatte sie genug Überraschungen erlebt. »Wusstest du, dass du nach deiner Großmutter benannt wurdest, Victoria?«
Verwundert hob Mary Rose die Brauen und flüsterte Lillian zu: »Nach diesem gemeinen alten Biest?«
Lord Elliott hörte die Frage und verkniff sich ein Lächeln, während Lillian laut aufstöhnte. Da beschloss Mary Rose in Zukunft nachzudenken, bevor sie irgendetwas sagte.
»Nein, nicht nach diesem gemeinen alten Biest«, erklärte ihr Vater, »sondern nach der anderen Großmutter.« Liebevoll zwinkerte er ihr zu und schlug vor, nun solle man sich endlich aufs Essen konzentrieren.
Die restliche Mahlzeit verlief in gedämpfter Stimmung. Mit einem wahren Heißhunger hatte Mary Rose sich an den Tisch gesetzt, aber nun war ihr der Appetit vergangen. Lustlos starrte sie auf ihren Teller. Die formelle Atmosphäre störte sie. Daheim ging es beim Dinner laut und chaotisch zu. Es war die einzige Tageszeit, wo alle Brüder zusammenkamen, und jeder wollte zuerst erzählen, was er in den vergangenen Stunden getan hatte. Entweder stritten sie, oder sie hänselten einander, und es gab immer einen Grund zum Lachen.
Jetzt kam sie sich vor wie bei einer Beerdigung. Am liebsten wäre sie nach oben geflohen. Doch sie wagte nicht, sich zu entschuldigen. Pflichtbewusst befolgte sie Lillians Anweisungen und stand die ganze, scheinbar endlose Mahlzeit durch.
Der Vater brachte einen schmeichelhaften Toast auf ihre Heimkehr und ihre Hochzeit aus. Dann meinte Barbara, man sollte Ende September einen Empfang zu Victorias Ehren geben, und Lillian stimmte begeistert zu. Beide begannen eifrig Pläne zu schmieden, während ihrer Nichte immer wieder die Augen zufielen.
Doch sie durfte sich erst eine Stunde später zurückziehen, und da war sie so erschöpft, dass sie kaum die Treppe hinaufsteigen konnte. Im Schlafzimmer wurde sie von Ann Marie erwartet – und von einer roten Rose, die auf dem Kissen lag.
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