Rosen für eine Leiche (German Edition)
Verlegenheit. Dann wischte ich mir den
Mund am Ärmel ab, legte den Arm um Chili und schob uns ins Gedränge.
»Komm, wir fahren ›Night Fly‹«, sagte ich. »Vielleicht kommt das
Zeug ja wieder aus mir raus.«
»Night Fly« ist ein Sturzflug-, Roll- und Überschlaggerät, besonders
geeignet für Suizidgefährdete. Wenn’s vorbei ist, weiß man wieder, wie schön
das Leben sein kann.
Als Chili sah, wie es funktionierte, war ihre einzige Bemerkung:
»Und – was ist mit deinem Rücken? Deinen Krämpfen? Deinem Schmerz?« Dabei
drückte sie mir ihre Faust gegen die Wirbelsäule und fuhr den Rücken hinunter.
»Da schau hin«, sagte ich. Die Mitflieger hatten gerade in
Sechserreihen nebeneinander Platz genommen. Mit schwarzem Kunststoff ummantelte
Metallbügel senkten sich über ihre Köpfe hinweg herab und pressten die
Oberkörper gegen den Sitz. »Da sitzt du sicherer als daheim auf deiner Couch.
Das Ding umklammert dich wie ein Gorilla.«
Wir nahmen Platz, das Fluggerät setzte sich taumelnd in Bewegung.
Wenige Sekunden blieben uns, einen Blick über den Festplatz zu werfen.
Vor den Buden standen Touristen mit nackten Oberkörpern, junge
Mütter zwängten ihre Kinderwagen über die mit zertretenen Eistüten beklebten
Asphaltwege, und die Luft war erfüllt vom Weinen kleiner Kinder, dem Gejohle
von Jugendlichen und dem Humptaratata aus den Bierzelten, in denen die Leute
schwitzten, erstickten, taub und betrunken wurden und trotzdem – oder
vielleicht gerade deswegen – glücklich waren.
So wie Chili und ich, als wir aus dem »Night Fly« schwankten. Zur
Entspannung stiegen wir ins Riesenrad und blickten hinab auf den Platz der
großen Gaudi und über die Dächer von Rosenheim bis hinein in die Tiroler Alpen.
Der Lärm des Zaubertheaters unter uns und der süße Duft gebrannter Mandeln
drangen bis hier herauf.
Mit Chilis warmer Schulter an der Seite fühlte ich mich an meine
frühe Jugendzeit erinnert. Ich war auf dem Münchener Oktoberfest gewesen und
hatte mich schrecklich in ein Mädchen verliebt, das Augen wie winzig blaue
Luftballons hatte. Auch mit ihr war ich Riesenrad gefahren, und als unsere
Gondel am höchsten Punkt angelangt war und anhielt, habe ich sie geküsst. Sie
war schon erfahren, hatte lange Zöpfe und lehrte mich den Zungenkuss. Ich
fühlte mich zur Heirat verpflichtet, aber die zarte Beziehung hielt nur ein,
zwei Wochen, wenn ich mich recht erinnere.
»Hopperla«, sagte Chili und drückte meinen Oberkörper nach vorn, »da
schau hin.«
In die Menge unter uns war Bewegung gekommen, wie wenn ein Stau sich
auflöst. Ich sah Menschen in eine Richtung hasten, dann hörte ich einen leisen
Knall. Das klang anders als ein normales Wiesngeräusch. Im selben Augenblick
schien es, als würde alles Hasten in Zeitlupe verfallen und als würden all die
Menschen nur mehr murmeln. In diese künstliche Ruhe hinein ertönte noch ein
Knall. Die Traube stob auseinander.
Wir sahen uns an und dachten beide das Gleiche.
Chili sprach es aus. »Wie kommen wir am schnellsten wieder runter?«
Ihre Hand fuhr in die Jackentasche. Ihr Handy. »Hallo, Chili hier.
Ich bin im Riesenrad, ganz oben. Ich habe Schüsse gehört, in der Ostgasse,
links vom Riesenrad aus gesehen. Kommt raus aus eurem Bierzelt und beeilt euch,
es sieht ernst aus.«
Unglaublich, wie störrisch ein Riesenrad sein kann. Wir wären am
liebsten gesprungen, so pomadig drehte es sich. Unten spurteten wir beide los.
Chili wieselte voraus, quetschte sich durch die vielen fremden Leiber. Wir
hasteten zwischen den Buden hindurch, ich hatte Mühe, ihr zu folgen. In der
Ferne hörte ich Sirenen.
Es war, als würde man aus einer Menge heraus auf einen Marktplatz
geraten oder allein in ein volles Fußballstadion einlaufen. Die Menschen hatten
ein Oval von fünfzehn, zwanzig Metern gebildet. Eine ältere Frau im Dirndl
klammerte sich an ein lebensgroßes, schwarz-weißes Luftballonzebra. Sie
hoppelte mit ihm im Kreis herum und rief immer wieder: »Ein Arzt! Wir brauchen
einen Arzt!«
Im Mittelpunkt des Ovals befanden sich vier Personen. Eine weinende
Frau, die einen Jungen im Arm hielt, und Chili, die sich auf Knien über einen
Mann beugte, der wie leblos vor ihr lag.
Ich teilte die Menge und trat in den Kreis. Ich bemühte mich, ruhig
zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen, obwohl ich am liebsten umgekehrt
und davongelaufen wäre. Ich ahnte, was da auf mich zukam.
Chili hatte sich aufgerichtet und blickte zu mir herüber. Sie
schüttelte
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