Rosen für eine Leiche (German Edition)
eine
verspiegelte Tür beobachten konnte.
So trafen wir wieder aufeinander, Herbert Priegel und ich.
Milchglasscheiben verweigerten jeglichen Ausblick. Diesmal hatte ich keine
Kulisse vorbereitet, keine Ordner, keine Waffen oder Fotos. Nur mit einem Tisch
zwischen ihm und mir.
Seit unserem letzten Treffen war er noch hagerer geworden, auch noch
länger, schien es, zumindest, wenn er saß. Tiefe Falten zogen sich von den
Mundwinkeln nach unten. Er lehnte im Stuhl, hatte die Arme hinter dem Genick
verschränkt und starrte mich an, ohne zu blinzeln. Seine hellblauen Augen
musterten mich unter halb geschlossenen Lidern. Etwas in seinem Gesicht hatte
sich verändert, ich kam nur nicht gleich darauf, was.
»Mögen Sie wieder ein Bier?«, fragte ich und war gespannt auf seine
Reaktion.
»Was wollen Sie hören?«, sagte er. »Ein Nein?«
Humor hatte der Mann ja.
»Ihr Geständnis«, sagte ich und machte eine Pause. »Ihre Tochter.
Sie haben doch die ganze Zeit über Bettina und meinen Vorschlag nachgedacht,
stimmt’s? Ihr Geständnis im Tausch gegen Bettina. Sie wäre bereit, Sie zu
besuchen.«
Chili hatte herausgefunden, dass Bettina verheiratet war, zwei
Kinder hatte und in Holland lebte. Ihre Familie war strikt gegen ein Treffen
mit »dem Mörder«, doch sie selbst würde unter Umständen die Reise antreten.
»Bettina«, murmelte Priegel mit leeren Augen. Er bückte sich, um sich
mit der Handfläche über die Schuhe zu fahren.
Ich stand auf. Ich konnte nicht sitzen. Außerdem hielt ich seinen
Mundgeruch nicht mehr aus. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die gekalkte
Wand und stützte mich mit dem abgewinkelten Bein ab. Was mochte in ihm
vorgehen? Seit ihren Kindertagen hatte er seine Tochter nicht mehr gesehen. War
dieser kaltblütige Mann tatsächlich so dünnhäutig, wie er tat?
Priegel stand auch auf.
»Wie lang sind Sie jetzt hier drin?«, fragte ich ihn.
Er zupfte sich an der Oberlippe.
Diese Geste löste die Blockade in meinem Gehirn. Der Schnurrbart.
Natürlich, er hatte sich den Oberlippenbart wegrasiert. Eigenartig. Draußen hat
jeder, der einen Bart getragen hatte, nachher einen weißen Streifen oder Fleck
auf der braunen Haut. Priegel hatte weder eine braune Haut noch einen Fleck.
»Dreizehn Tage«, sagte er.
»Klar, seit Sie wieder eingebuchtet worden sind. Nachdem Sie den
Mann am Herbstfest erschossen haben. In Freiheit waren Sie gerade mal drei
Tage. Und davor sind Sie zwanzig Jahre und vierundsechzig Tage in diesem Loch
rumgehangen.«
Er schüttelte den Kopf. »Zweimal umgezogen dazwischen. Mir gefällt’s
hier drin. Meine Zelle ist genial.«
Ich schluckte. Bluffte er oder meinte er, was er sagte? Ich war
vollkommen überrascht von Priegels Reaktion. Ich verstand auch sein dünnes
Lächeln nicht. Und das Hellblau seiner Augen konnte einen richtig nervös
machen.
»Haben Sie eigentlich mitbekommen«, sagte ich, »was sich ereignet
hat in den zwanzig Jahren draußen in unserem blühenden Deutschland? Wenn Sie
vor zwanzig Jahren mit dem Auto von Rosenheim in die Münchener Innenstadt
gefahren sind, haben Sie fünfundvierzig Minuten gebraucht.«
Priegel wiegte den Kopf.
Ich hätte gern gewusst, was er im Schild führte. Egal, er musste mir
den Mord gestehen, und ich musste ihn dafür weichklopfen.
»Damals waren’s fünfundvierzig Minuten«, wiederholte ich. »Wissen
Sie, wie lang es heutzutage dauert, nach München zu kommen?«
»Nein, weiß ich nicht«, sagte er. »Ist mir auch egal. Ich fahr ja
nicht von Rosenheim nach München. Was soll ich dort? Ich war noch nie in
Rosenheim.«
Ich verstand die Botschaft. Doch ich kannte seinen Autotick.
»Die Autobahn ist dreispurig. Sie ist zu einer Lkw-Rennstrecke
geworden. Die rechte Spur ist blockiert von Lkws mit Anhängern. Auf der
mittleren überholen Laster, die drei Kilometer schneller sind als ihre Kollegen
auf der rechten Seite. Und auf der linken Spur überholen holländische Wohnwagen
die Lkws. Dazwischen fummeln graubärtige Männer auf schweren Motorrädern rum
und vierradangetriebene Frauen, die ihre Sprösslinge über die Autobahn zum
Kindergarten bringen. Sie hätten da gar keine Chance, voranzukommen.«
Wir standen uns immer noch in zwei Metern Entfernung gegenüber,
jeder mit dem Rücken an seiner Wand.
Priegel kratzte sich am Kopf. »Vielleicht brauch ich ja gar kein
Auto«, sagte er. »Ist das wirklich so da draußen?«
»Noch schlimmer, Herr Priegel. Noch schlimmer. Die Benzinpreise sind
so hoch, dass kein normaler
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